Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
ohne ihnen zu nahe zu kommen.
Nachdem Chris das Tor von innen wieder verriegelt hatte, ging sie langsam über das offene Gelände vor der Tribüne. Fred blieb, sichtlich widerstrebend, ein paar Schritte hinter ihr. Normalerweise betrat er das Wolfsgehege nie. Chris wußte, daß Fred die Wölfe nicht sehr mochte. Seine Liebe gehörte den pflanzenfressenden Parkbewohnern, für deren Pflege er zuständig war, den Hirschen, Rehen, Wildschweinen, Schafen und Ziegen. Und da Wölfe nun einmal seine Lieblinge aufzufressen pflegten, wenn man sie nicht daran hinderte, hielt sich seine Sympathie für Canis lupus in Grenzen.
Und Fred war Eifeler Bauernsohn, das kam noch hinzu. Chris wußte, daß Generationen seiner armen, sich mühselig plagenden Vorfahren im Wolf immer nur den lästigen Feind gesehen hatten, die Schafe, Ziegen und Kälber raubende Heimsuchung. Als 1888 in der Eifel der letzte Wolf abgeschossen worden war, hatten die hiesigen Bauern ihm bestimmt keine Träne nachgeweint.
An die Freifläche schloß sich ein bewaldeter Hügel an, hinter dem der kleine Bach entlangfloß, in dessen Uferböschung die Wölfe ihre Wurfhöhlen gegraben hatten. Wie in freier Wildbahn benutzte auch das Rudel hier im Gehege mehrere dieser Höhlen als Ausweichquartiere, um die Welpen bei Gefahr in Sicherheit bringen zu können. Während Chris den Hügel hinaufstieg, hielt sie nach den Wölfen Ausschau. Es mußten doch endlich, endlich ein paar Wolfsgesichter zwischen den Bäumen auftauchen und die beiden zweibeinigen Eindringlinge halb neugierig, halb ängstlich beobachten! Doch sie konnte keines der Tiere entdecken. Lediglich ein Eichhörnchen saß mit dem Kopf nach unten an einem Buchenstamm, beäugte Chris und Fred wachsam und fing laut an zu schimpfen.
Ansonsten war es beunruhigend still im Gehege, kein warnendes Wuffen kam von den Wölfen, gar nichts. Chris fürchtete schon auf tote oder sich in Krämpfen windende Wölfe zu stoßen. In Kanada gab es immer noch Gegenden, wo die Wölfe mit vergifteten Ködern bekämpft wurden, weil man sie als lästige Konkurrenz für zahlungskräftige Freizeit-Trophäenjäger betrachtete. Doch wer hätte hier in der Eifel ein Interesse daran haben können, harmlose Gehegewölfe zu vergiften, die zudem als „eines der größten Wolfsrudel Europas“ eine wertvolle Touristenattraktion darstellten?
„Hör mal“, sagte Fred leise.
Da war ein dünnes, klägliches Winseln. Chris spähte vorsichtig hinunter zum Bach. An seinem Ufer saßen, dicht zusammengedrängt, die fünf diesjährigen Welpen, die jetzt, im Alter von vier Monaten, anfingen mit den Altwölfen durch das Gehege zu streifen und sie auch schon hinunter zum Futterplatz begleiteten. Sie hockten, offensichtlich durch irgend etwas verunsichert oder verängstigt, dicht beieinander in der Nähe ihrer Wurfhöhle. Von den erwachsenen Wölfen war weit und breit nichts zu sehen.
Während Chris oben vom Hügel aus die Welpen beobachtete, war Fred hinüber zum Zaun auf der Westseite des Geheges gegangen, jenem Zaun, der das Gehege vom Wald außerhalb des Wildparks trennte. Weiter unten bei der Tribüne hatte gestern nachmittag der Fremde hinter diesem Zaun gestanden. Jetzt schien Fred dort etwas entdeckt zu haben, denn er winkte plötzlich, für seine Verhältnisse ungewöhnlich heftig und aufgeregt. Rasch lief Chris zu ihm. Als sie sich dem Zaun näherte, blieb sie wie angewurzelt stehen. „Scheiße!“ stieß sie hervor. Dann sagte sie leise, gepreßt: „Wir müssen die Polizei rufen.“
Nun würde sie Jonas unerwartet rasch wiedersehen. Und aus einem äußerst unerfreulichen Grund.
Mit Schöntges und Dimmig, den er zusätzlich verständigt hatte, ging Jonas Faber an der Kasse vorbei und nickte der Kassiererin zu. Vor ungefähr zwei Jahren war er zuletzt im Park gewesen, mit seiner kleinen Nichte. Chris Adrian war damals noch in der kanadischen Wildnis umhergestreift.
Sein Herz klopfte nicht so sehr wegen der Sache, die Chris ihm mit aufgeregter Stimme am Telefon mitgeteilt hatte. Die war so verrückt, daß er noch etwas Zeit brauchte, um sie zu verarbeiten. Im Polizeihandbuch ließ sich für einen solchen Fall mit Sicherheit keine Dienstvorschrift finden. Nein, sein Herz klopfte ganz privat. Vermutlich wäre es vernünftiger, sie nicht wiederzusehen, dachte er. Ich hätte auf der Wache bleiben und statt dessen Biggi und Hannes hinschicken sollen.
Chris stand am Tor des Geheges, vor der großen hölzernen Zuschauertribüne. Sie trug beige
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