Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
setzte sich im Schneidersitz aufs Bett, schlang sich die Decke um die Schultern und starrte eine Weile in den allmählich heller werdenden Morgen. Dann zog sie den Zettel, den ihr Jonas gegeben hatte, aus der Tasche und wählte seine Nummer.
Seine Stimme klang noch sehr verschlafen. Im Hintergrund hörte sie Musik. Sein Radiowecker vermutlich. Ob er allein war? Möglicherweise war eine andere Frau bei ihm, vielleicht hatte er längst geheiratet. Fred Schmitz hatte nur erzählt, daß Jonas wieder im Ort war und die Polizeiwache leitete, und nach mehr hatte sie nicht gefragt. Warum eigentlich nicht, wunderte sie sich jetzt.
„Und? Sind die Wölfe wieder da?“ fragte er.
„Nein. Sie waren da, aber ...“Es kostete sie einige Überwindung, ihm die ganze Geschichte zu erzählen, nicht nur das zu beschreiben, was äußerlich passiert war, sondern auch den Traum von dem Wolf und dem Bärenwesen und das unheimliche Doppelbild .
Wie früher, dachte sie. Nach Jonas hatte sie nur mit Silver Bear über solche Dinge gesprochen. Und mit diesem Psychiater, zu dem sie damals gerannt war, aber der zählte nicht, denn es hatte zu seinem Job gehört, sich verrückte Geschichten von verrückten Leuten anzuhören.
Wenn sich Jonas nun verändert hatte? Wenn er so geworden war wie alle und ihr nicht mehr glaubte?
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
Dann sagte Jonas langsam: „Klingt ganz schön ... unheimlich.“ Sie konnte förmlich sehen, wie er nachdenklich seine große Nase massierte, bemüht, in dem, was sie ihm erzählt hatte, einen Sinn zu finden. „Als nüchterner, realistischer Bulle müßte ich jetzt natürlich schlußfolgern, daß du nicht alle Tassen im Schrank hast...“
Offenbar hatte er gehört, wie sie erschrocken Luft einsog, denn er fügte rasch hinzu: „Aber seit du damals diesen Traum von Ilonas Motorradunfall hattest, kann ich nicht leugnen, daß es zwischen Himmel und Erde ziemlich ungewöhnliche Dinge gibt. Dich zum Beispiel.“
Sie atmete auf. Wenn er es so mit Humor nahm, war es okay. Aber die Erinnerung an den Motorradunfall ihrer Freundin, den sie im Traum gesehen hatte, etwa zur selben Zeit, als er, mehrere hundert Kilometer entfernt, tatsächlich geschehen war, jagte ihr auch jetzt, nach über zehn Jahren, noch einen Schauder über den Rücken. Ich glaube, wenn Jonas damals nicht bei mir gewesen wäre, wäre ich wirklich wahnsinnig geworden, dachte sie.
„Warum hast du mich nicht gleich in der Nacht angerufen? Ich wäre sofort zu dir rausgefahren.“ Dann beantwortete er sich die Frage gleich selbst: „Na ja, wenn dir danach gewesen wäre, hättest du‘s sicher getan.“
Sie entspannte sich wieder. Das war etwas, das sie an ihm immer besonders gemocht hatte: Nie hatte er sie bedrängt, etwas von ihr verlangt oder ihr Vorwürfe gemacht, sondern immer akzeptiert, was sie von sich aus geben mochte.
„Okay“, sagte er. „Dann stelle ich jetzt einen Suchtrupp zusammen. Ich melde mich wieder bei dir. Einverstanden?“
„Ja. Es ist wohl das Beste, was wir tun können.“
Nachdem Jonas aufgelegt hatte, starrte Chris grübelnd in den Garten hinaus. Angenommen, es gelang ihnen, die Wölfe aufzuspüren - wie sollten sie sie dann ins Gehege zurückbringen, solange dieser Mann seinen unheimlichen Einfluß auf das Rudel ausübte? Jemand, der offenbar zwanzig Wölfen seinen Willen aufzwingen konnte, würde sich wohl kaum von Jonas und den paar Buchfelder Streifenpolizisten beeindrukken lassen. Und was hatte der Fremde damit gemeint, daß er Chris zu sich rufen würde? Sie fröstelte und rieb sich die Schultern.
Jonas brauchte bis zum Mittag, um seinen Suchtrupp zusammenzubekommen. Dimmig und Honadel, die beide unbedingt dabeisein wollten, konnten nicht früher, und so war es bereits kurz nach eins, als sie sich neben der Besuchertribüne am leeren Wolfsgehege versammelten: er selbst, Schöntges, seine beiden jungen Streifenpolizisten Biggi und Hannes. Dimmig und Honadel trugen, was Chris sichtliches Unbehagen bereitete, ihre Jagdbüchsen bei sich, die Polizisten nur ihre Dienstpistolen.
Chris hatte ein Betäubungsgewehr geschultert. Sie wirkte bleich und übernächtigt. Zur Begrüßung hatte Jonas sie freundschaftlich umarmt, was sie recht steif und unbeholfen erwiderte. Offenbar hatte sie schon sehr lange niemand mehr liebevoll in die Arme genommen.
Sie gingen über den Wirtschaftsweg, der außerhalb des Parks zunächst durch ebenes Gelände mit einigen Kahlschlägen führte, die mit Buchen
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