Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
ansetzte, sie gewaltig stören müssen. Vor meiner Rückkehr in die Eifel hätte ich es niemals geduldet, daß mein Körper so viel zunimmt, dachte sie. Ich bekomme ja schon ein Doppelkinn. Doch angesichts ihrer immer rundlicher werdenden Arme und Oberschenkel wollte sich keinerlei Panik einstellen, eher eine sanfte Verwunderung über dieses weiche, pummelige Wesen, das sie da morgens aus dem Spiegel anblickte.
Sie ging ja nur noch spazieren und döste gern in der Sonne. Jahrelang hatte sie das Wort „Spazierengehen“ überhaupt nicht in den Mund genommen, da war bei ihr nur von „Trekking“ und „Wandern“ die Rede gewesen, was bedeutet hatte, möglichst viele Kilometer möglichst rasch zu marschieren und dabei den Körper bis an seine Grenze zu belasten. Jetzt ging sie wieder, wie als junges Mädchen, ohne Eile, blieb zwischendurch stehen, wenn sie etwas Interessantes entdeckte - einen Käfer, eine schöne Blüte oder ein neugieriges Eichhörnchen. Oder sie saß einfach untätig im Naturschutzgebiet zwischen den Wacholdersträuchern, sah die kreisenden Bussarde, hörte ihnen und den anderen Vögeln zu und picknickte ausgiebig.
Das Essen war ihr wichtig geworden - gutes, sahniges, erdiges Vollwertessen aus Frau Wegmeiers Garten und von den Biobauern der Umgebung. Frau Wegmeiers Küche erschien Chris wie ein duftendes Paradies. Silver Bear hätte Frau Wegmeier vermutlich als „Kochlöffel-Schamanin“ bezeichnet, und zwar mit echter Hochachtung.
Chris hatte inzwischen eine Menge von ihr gelernt und das Kochen und Backen ganz neu für sich entdeckt. Es war sehr entspannend und befriedigend, wenn die Hände, statt eine Fertigpizza in die Mikrowelle zu schieben, Teig aus frisch gemahlenem Mehl kneteten oder Gemüse putzten, das noch nach Gartenerde roch.
Ein kühler Wind kam auf, rauschte in den Bäumen und wehte ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Chris seufzte, hängte sich die Wolldecke um die Schultern und setzte sich auf der harten Holzbank etwas bequemer zurecht.
Sie dachte an Jonas. Hatten sie sich tatsächlich sechs Jahre nicht gesehen? Die Art, wie er sie anschaute, erschien ihr völlig unverändert. Seine Blicke hatten ihr immer das Gefühl gegeben, körperlich vollkommen zu sein, als sei ihr Körper eine wunderschöne Landschaft. Nun ja, diese Landschaft war um einiges hügeliger geworden.
Nie wieder war sie einem Mann begegnet, dem sie so vertrauen konnte wie Jonas damals. Und seit über einem Jahr hatte sie gar keine intime Beziehung mehr gehabt. Unbehaglich dachte sie daran, daß ihre letzte Begegnung mit Jonas vor sechs Jahren durch ihre eigene Schuld so schmerzlich verlaufen war, jedenfalls gab sie sich die Schuld. Vielleicht war es einfach besser, wenn sie allein lebte.
Sie fing an, schläfrig zu werden, rieb sich die Augen, gähnte, bemühte sich krampfhaft wach zu bleiben.
„Sie sind doch jetzt auch schon neunundzwanzig, Frau Adrian“, hatte Dr. Wegmeier zu ihr gesagt. Irgendwann muß man Wurzeln schlagen.
Wenn er in drei Wochen aus Neuseeland zurückkam, wollte er eine Antwort. Ihr Einjahresvertrag lief im kommenden Februar aus. Wegmeier hatte ihr eine Festanstellung angeboten, mit einer schriftlichen Zusage der Bezirksverwaltung, daß ihr die Parkleitung übertragen werden würde, wenn er im Oktober nächsten Jahres in Pension ging. Alles paßte so gut. Das Land schien sie festhalten und nicht mehr loslassen zu wollen, jetzt, wo sie hierher zurückgekehrt war. Es ist deine Bestimmung , hatte Silver Bear gesagt. Aber natürlich brauchte sie sich überhaupt nicht um das Gerede des alten Indianers zu kümmern. Sie konnte nächsten Februar oder auch früher ihren Rucksack packen und auf Nimmerwiedersehen nach Kanada verschwinden. Dort würde sie dann allerdings, um dem alten Zauberer nur ja nicht zu begegnen, einen großen Bogen um das Gebiet in British Columbia machen, wo Silver Bears Stamm lebte. Alaska war auch eine Möglichkeit. Gute Kontakte dorthin hatte sie. Es gab mindestens zwei oder drei Forschungsprojekte, an denen sie hätte mitarbeiten können.
Schließlich fielen Chris doch die Augen zu. Als sie mit einem heftigen Ruck wieder erwachte, fröstelte sie. Die Luft hatte sich weiter abgekühlt. Chris rieb sich die Augen und spähte hinunter ins Gehege.
Die Wölfe waren zurück! Chris‘ Herz begann heftig zu klopfen. Sie konnte die dunklen Silhouetten der Wölfe deutlich erkennen. Es schienen tatsächlich alle zurückgekommen zu sein. Zwei Wölfe standen dicht am
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