Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
geerntet wurde - ein friedlicher, ungefährlicher Ort. Mit dieser Sicherheit war es nun vorbei, solange das Wolfsrudel dort draußen umherstreifte. Sie mußten es so schnell wie möglich finden und unschädlich machen.
Als endlich Dimmigs Pick-up herantuckerte, merkte man allen die Erleichterung deutlich an. Chris bestand darauf, daß der verletzte Honadel sich vorne zu Dimmig ins Führerhaus setzen sollte, so daß sie nun, während der Pickup langsam über den vom Regen aufgeweichten Waldweg schaukelte, dicht neben Jonas auf der Ladefläche saß.
Jonas mußte an damals denken: Als er sich in sie verliebte, war er siebzehn gewesen und sie fünfzehn. In der Schule hatte er sie kaum bemerkt, lediglich ab und zu etwas Gerede über sie gehört. Dann, als er eines Tages mit Jochen Honadel und Markus Dimmig im Wald herumstromerte, sahen sie plötzlich Chris auf einer Lichtung sitzen. Sie hielt einen Beutel mit Nüssen in der Hand und fütterte zwei Eichhörnchen, die keinerlei Scheu vor ihr zeigten, sondern sich so nah herangewagt hatten, daß Chris sie streicheln konnte. Sie redete leise auf die beiden Eichhörnchen ein und wirkte dabei so geheimnisvoll und selbstvergessen, daß es völlig verzauberte.
Honadel und Dimmig sahen sich an und signalisierten Jonas mit Zeichensprache an Ort und Stelle zu bleiben, während sie um die Lichtung herumschlichen. Plötzlich sprangen sie mit lautem Geheul hinter Chris aus dem Gebüsch. Sie erschrak furchtbar, die Eichhörnchen stoben davon, Chris packte den Beutel mit den Nüssen und rannte los. Jonas schämte sich, daß sie ihr einen solchen Schrecken einjagten. Die Rolle, die sie ihm in dem albenen Spiel zugedacht hatten, bestand offensichtlich darin, sich Chris von der anderen Seite in den Weg zu stellen, aber er hatte nicht die Absicht, das zu tun. Er stand auf und wollte sie einfach vorbeirennen lassen, doch sie erschrak wieder, stolperte über einen Ast und fiel der Länge nach hin.
Jetzt waren Honadel und Dimmig bei ihr. Dimmig zerrte sie vom Boden hoch und hielt sie an den Schultern fest. Sie schrie, und Jonas sah ihre Tränen. Dimmig plusterte sich groß und drohend auf und sagte: „Na, du Hexe! Deine Mutter hat‘s mit allen Kerlen im Ort getrieben, und du treibst es dafür lieber mit den Tieren! Willst du‘s dir nicht mal von ein paar richtigen Männern wie uns besorgen lassen?“
Jonas konnte sich nicht erinnern, je zuvor in seinem Leben so wütend gewesen zu sein. Er war einen halben Kopf größer als Dimmig und mußte auf ihn zugestürmt sein wie ein wütender Stier. Er wußte nachher nicht mehr genau, was er gebrüllt hatte, aber Honadel meinte, irgend etwas wie: „Bist-du-bescheuert-faß-sie-nicht-an-du-Arschloch!!!“ Er hatte wirklich kurz davorgestanden, Dimmig nach Strich und Faden zusammenzuschlagen. Dimmig ließ Chris erschrocken los und wich ein paar Schritte zurück.
Zitternd vor Wut und gleichzeitig mit den Tränen kämpfend, hatte Jonas die verstreuten Haselnüsse wieder eingesammelt, sie in den Beutel gefüllt und ihn Chris zurückgegeben. Dabei berührten sich für einen kurzen Moment ihre Hände. Sie wischte sich mit der freien Hand die Tränen aus dem Gesicht, schniefte leise „Danke!“ und verschwand im Unterholz wie ein fliehendes Reh.
„Reg dich doch nicht so auf wegen der“, sagte Honadel, „die tickt doch nicht richtig.“
Und Dimmig sagte beschwichtigend: „Ich hätte ihr doch nicht wirklich was getan. Wollte ihr bloß ein bißchen Angst einjagen.“
Auf dem Nachhauseweg fühlte sich Jonas wie ein Stück Scheiße, weil er solche Freunde hatte.
Chris ging ihm seit diesem Tag nicht mehr aus dem Kopf. Er brauchte sehr lange, um ihr Vertrauen zu gewinnen, denn sie war furchtbar scheu. Doch als sie dann endlich erkannte, daß er sie aufrichtig gern hatte, wirkte sie überglücklich, nach dem Tod ihrer Mutter endlich wieder einen Menschen gefunden zu haben, dem sie vertrauen konnte. Von da an waren sie unzertrennlich, und es gab für ihn nichts Schöneres, als nach der Schule mit Chris durch die Natur zu streifen. Dimmig, Honadel und die anderen zogen ihn auf, weil er sich mit dieser „Verrückten“ abgab, doch das kümmerte ihn nicht.
Chris war so wunderschön und sonderbar. Anfangs fragte er sich, ob sie nicht tatsächlich verrückt war, wie die Leute behaupteten, geisteskrank. Aber er erlebte mit ihr so mysteriöse Dinge, daß er beschloß, ihr ganz einfach zu glauben, wenn sie ihm von ihren Träumen und Intuitionen erzählte. Zum
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