Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
Morgensonne. Sogar ein paar Wildkaninchen hoppelten hinten bei den Bäumen im Gras herum. Durch das aufgekippte Fensterviertel drang Vogelzwitschern herein.
Daß sie nicht begriff, schien Scholl zu verärgern. „Na!“ stieß er hervor. „Das alles! Die Bäume, Kaninchen, die verdammten Vögel!“
Susanne schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Sie glauben, daß die Kaninchen Sie bedrohen, und die Vögel? Daß sie Ihnen etwas tun wollen?“
„Nicht sie“, sagte Scholl. „Wir sind die Angreifer! Es“ - er pochte heftig mit dem Zeigefinger auf seine Schädeldecke - „das Etwas , verteidigt sich nur! Wir sind die Zivilisation, wir greifen an. Wir wollen kontrollieren und beherrschen. Wir planen und bauen, erzeugen überall Geraden und rechte Winkel. Aber das müssen wir doch, nicht wahr?“ Er schaute Susanne fast flehend an, wie es ihr schien. „Wir müssen doch so sein! Wo kämen wir hin, ohne Kontrolle?“
Scholl begann nervös wie ein Tiger im Käfig zwischen Susanne und Pollmann auf und ab zu gehen. „Das war das große Ziel, Gablenz‘ großes Ziel“ - er breitete exaltiert die Arme aus - „absolute Kontrolle!“
In seinem Gesicht zuckte es. Er blieb wieder stehen, und Susanne sah, wie sich seine Schultern krümmten und verkrampften. „Doch es hat nicht funktioniert. Statt dessen hat Megatonin ein Tor geöffnet, das sich nicht wieder schließen läßt. Nie wieder.“ Er rieb sich stöhnend mit beiden Händen die Kopfhaut, als ob sein Schädel zu zerspringen drohte. „Und hinter diesem Tor lauert das Etwas ...“
„Aber was ist dieses Etwas ?“ fragte Susanne.
Er kam zu ihr, stellte sich mit seinem von Brandnarben entstellten, aufgedunsenen Gesicht ganz dicht vor sie hin und schaute ihr in die Augen. Sein Blick schien etwas Hypnotisches zu haben, das ihr angst machte. „Das Etwas “, sagte er gedämpft, als fürchtete er, unliebsame Ohren könnten mithören, „ist überall. Es bewacht das Land unter unseren Füßen. Wir haben diese Riesenstadt darüber gebaut, aber es ist immer noch da. Es hat Millionen Augen.“ Er schaute sich gehetzt um. „Die Ratten und Mäuse in der Kanalisation. Die Katzen in den Hinterhöfen. Die Tauben und Krähen auf den Dächern. Millionen Augen und Ohren und Nasen, selbst hier zwischen all dem Beton. Zähne und Schnäbel und Krallen. Es will sich rächen für das, was die Zivilisation ihm antut. Durch mich will es sich rächen.“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Aber das lasse ich nicht zu. Ich kämpfe dagegen an, so gut es geht. Tag und Nacht. Das Etwas darf nicht die Kontrolle bekommen. Dann wären wir ohnmächtig. Die Zivilisation würde untergehen!“ Seine Stimme wurde schrill. „Ich, ich, ICH würde untergehen!“ Jetzt schrie er beinahe, hysterisch, mit sich überschlagender Stimme.
Dann stand er schlaff und zitternd da und begann zu weinen. „Ich will nicht untergehen“, schluchzte er leise.
Langsam setzte er sich auf sein Bett und nahm wieder die Haltung ein, in der sie ihn zu Anfang vorgefunden hatten.
Die nun folgende Stille war bedrückend. Susanne spürte, daß es keinen Sinn hatte, Scholl mit weiteren Fragen zu quälen. Sie fühlte sich sehr unbehaglich und wollte möglichst schnell nach draußen, an die frische Luft. Die Begegnung mit Scholl hatte tief in ihr etwas aufgestört, irgendwelche alten Ängste, die sie vielleicht als Kind zuletzt gespürt hatte. Verflucht, was für eine Bedrohung meinte Scholl? Die Natur als Bedrohung?
„Gehen wir.“ Dr. Pollmanns Stimme, väterlich ruhig. „Er sagt jetzt nichts mehr. Immer wenn dieses Thema zur Sprache kommt, steigert er sich nach kurzer Zeit in eine Art hysterische Blockade hinein und ist nicht mehr ansprechbar. Ich werde den Pflegern sagen, daß sie heute seine Beruhigungsmitteldosis heraufsetzen sollen.“
Draußen vor der Klinik atmete Susanne erleichtert durch. Als sie sich eine Zigarette anzündete, merkte sie, daß ihre Hände zitterten. Sie blies den Rauch hinauf in den blauen Himmel. Rauchend ging sie langsam zu ihrem Wagen. Jetzt, hier in der Sonne, beruhigten sich ihre Nerven allmählich. Der Tag wurde heiß, genau wie gestern, und am Abend würde vielleicht ein Gewitterregen den Staub aus der Stadtluft waschen.
Susanne schüttelte energisch den Kopf. Dort drinnen, in Scholls Krankenzimmer, hatte sein Gerede so beklemmend gewirkt. Dieses „Etwas“, das angeblich versuchte ihn zu beherrschen. Sie war tatsächlich nahe daran gewesen, ihm zu glauben. Und natürlich glaubte er
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