Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
Innere eines Krankenzimmers aus dem Blickwinkel einer über der Tür montierten Kamera. Das Zimmer war vollkommen kahl und leer, enthielt lediglich ein Bett, einen kleinen Tisch und einen Stuhl. Auf dem Bett hockte ein Mann, die Beine angezogen, das Gesicht in den Händen vergraben.
„Es müßte nicht so unwohnlich da drinnen sein“, sagte Pollmann. „Andere Patienten schmücken ihre Zimmer mit selbstgemalten Bildern, mit Fotos oder Kalenderblättern. Scholl will , daß sein Zimmer so leer ist. Und er lehnt alles ab, was ihn ein wenig ablenken oder sein Leben angenehmer machen könnte. Wir haben ihm Maltherapie angeboten, Musiktherapie. Alles zwecklos.“
„Am besten wäre es, wenn wir seine Dosis erhöhen“, sagte der Pfleger.
Dr. Pollmann seufzte. „Ja, bequemer wäre es.“ Er lachte kurz auf, was bitter klang, resigniert. „Aber vielleicht wäre es für ihn am besten, wenn wir ihn nicht länger daran hindern...“
„Ihn woran hindern?“ fragte Susanne.
„Daran, sich umzubringen.“
Pollmann führte Susanne in Scholls Zimmer. „Guten Morgen, Roland“, sagte er, „ich habe dir Besuch mitgebracht. Die Kommissarin möchte dir ein paar Fragen stellen.“ Susanne wunderte sich, daß er Scholl duzte. Aber vermutlich war das hier der übliche Umgangston gegenüber den Patienten.
Scholl saß immer noch mit angezogenen Beinen auf dem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt, das vorgebeugte Gesicht in den Händen verborgen. Jetzt hob er langsam den Kopf, so daß sein Gesicht über den Händen auftauchte. Es erinnerte nur wenig an das Paßfoto in der Ermittlungsakte: Es war aufgedunsen, ungesund fahl, dunkle Schatten unter den Augen, krauses, fettiges Haar. „Erst will ich eine Zigarette“, sagte er. „Gib mir eine.“ Seine Stimme klang gepreßt und zitterte leicht, als ob ihm etwas in der Kehle saß. Daß ein Patient auch den Arzt duzte, fand Susanne ungewöhnlich. Es ließ auf ein vertrautes, freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden schließen.
Als Susanne sein Gesicht genauer betrachtete, sah sie, daß die Haut um den Mund und auf den Wangen vernarbt und entstellt war, offenbar von einer Brandverletzung, auch Scholls Handrücken waren mit diesen Narben bedeckt.
Dr. Pollmann zog eine Zigarettenschachtel aus seinem Arztkittel und gab Scholl eine Zigarette, die der sich mit zitternden Fingern an die Lippen steckte. Zunächst falsch herum, mit dem Filter vorne. Er bemerkte seinen Fehler, drehte sie rasch um, und Pollmann zündete sie ihm an. Mit geschlossenen Augen nahm Scholl einen tiefen Zug.
„Zigaretten und Feuerzeug mußten wir ihm wegnehmen“, sagte Pollmann, zu Susanne gewandt, „seit er versucht hat sich anzuzünden.“
Mein Gott. Was mußte in einem Menschen vorgehen, daß er auf die Idee kam, sich mit einem Feuerzeug anzuzünden? Dr. Pollmann bot auch Susanne eine Zigarette an. Sie nahm sie dankbar. Er selbst rauchte offenbar nicht, ließ die Packung wieder in seinem Kittel verschwinden. Susanne räusperte sich und sagte: „Herr Scholl, ich möchte Sie zu dem Experiment befragen, das Dr. Gablenz mit Ihnen durchgeführt hat. Sie erinnern sich daran, hoffe ich?“
Ein Ruck lief durch Scholls Körper. Er sprang auf, ging rasch zum vergitterten Fenster und zurück zum Bett, setzte sich wieder, sog Rauch ein und schaute Susanne an. „Es hat nicht funktioniert“, sagte er. „Wir wollten die absolute Kontrolle. Totale Vorherrschaft des rationalen Intellekts. Hundert Prozent Leistung der Großhirnrinde. Aber es hat nicht funktioniert.“ Seine Hände zitterten jetzt noch stärker, er schlug die Beine übereinander, wippte mit dem Fuß.
„Roland“, sagte Dr. Pollmann, „erzähl der Kommissarin von dem Etwas .“ Was für ein Etwas? Pollmann betonte dieses Wort sehr eigenartig.
Abrupt sprang Scholl wieder auf und packte Susanne an der Schulter. Sie zuckte erschrocken zusammen. „Kommen Sie“, sagte er erregt, „ich zeige es Ihnen!“ Er zog sie zum Fenster. Susanne schaute sich hilfesuchend nach Pollmann um.
„Keine Angst“, sagte der Arzt, „er tut Ihnen nichts.“
Scholl schob Susanne ganz nah an das von innen vergitterte Fensterkreuz heran. Sie konnte seinen raschen, gepreßten Atem dicht neben sich spüren. „Sehen Sie?“ fragte er. „Die Bedrohung!“
Susanne schaute nach draußen. Was für eine Bedrohung? Draußen lag der Park der Klinik, ein schöner Park mit mächtigen alten Bäumen. Einige Patienten gingen dort spazieren oder saßen auf Bänken in der
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