Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
Jonas‘ gleichmäßige Atemzüge.
7. KAPITEL
C hris träumt. Chris atmet im Rhythmus des Landes -Erdatem. Sie ist eine große alte Buche, spürt, wie die Energie der Erde in ihrem Stamm aufsteigt, um sich in ihren Blättern mit dem Sonnenlicht zu vereinigen. Der Wind spielt mit ihren Zweigen.
Sie ist ein Bussard, der vom Buchenast auffliegt, ihr Schrei gellt weit über das Land, sie spürt die tragende Kraft der Luft unter ihren Schwingen. Ihren scharfen Augen entgeht nichts, Flügelschlagen und ruhiges Gleiten sind eine Lust. Sie ist ein Eichhörnchen, das verspielt und neugierig durch die Baumkrone turnt. Sie ist ein kleiner Käfer im trockenen Laub, durchpflügt auf sechs Beinen einen endlosen, moosigen Ozean, jeder in den Himmel ragende Baum erscheint ihr gigantisch wie eine Galaxie. Sie ist das Land selbst. Die Bäume sind ihre Bronchien, eine Schicht aus Laub, Gräsern und Moos bedeckt wärmend, nährend und schützend ihre nackte, verletzliche Haut. Sie spürt die lebenspendende Wärme der Sonnenstrahlen, die zärtliche Massage des durstlöschenden Regens, das kühle, alles verändernde Tuch des Schnees. Sie spürt die Pfoten von Marder, Fuchs und Dachs, die Hufe von Reh und Hirsch.
Alles ist ein Teil von ihr, lebt als Zelle in ihrem großen, pulsierenden Körper: von den Pilzfäden und Würmern in ihrer Humushaut bis zu den Tauben, Hähern und Eulen über den Baumwipfeln. Sie fließt in Bächen und wohnt in Teichen. Sie atmet Tau und Rauhreif, und tief unter Millionen Jahre altem Gestein glüht ihr Herz aus flüssigem Feuer.
Sie spürt die Zonen des Todes auf ihrer Haut, graue, kalte, harte Bänder, auf denen Blechtiere ohne Seele dahinjagen und stinkenden Rauch ausatmen. Sie spürt eine breite, häßliche Furche, ihr von Zweibeinern ins Fleisch gegraben, die verlernt haben, auf ihr Herz zu hören und darin den Rhythmus der Erde zu finden. Jede Baggerschaufel, die den Humusboden verletzt, ohne daß irgend jemand um Erlaubnis gefragt oder um Verzeihung gebeten hätte, ist ein Dorn in ihrem Fleisch. Jede Motorsäge, die das lebendige Holz eines Baumes durchtrennt, raubt ihr ein Stück ihrer Kraft.
Chris sieht eine graue Masse aus Teer und Beton das Land begraben. Alles eingeebnet, planiert und tot, um es optimal nutzen zu können für Autobahnen, Flughafenpisten und Parkplätze. Dann schüttelt sich das Land in einem gewaltigen, befreienden Beben, und aus hunderttausend Rissen im Asphalt sprießt frisches, leuchtendgrünes Unkraut hervor.
Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. Es war schon ein wenig Licht im Zimmer, der Morgen nicht mehr fern. Da sie sich angezogen auf den Futon gelegt hatte, steckte der Medizinbeutel noch in ihrer Hosentasche. Sie zog ihn heraus und breitete ihren kleinen Schatz vor sich aus. Noch war es so dunkel, daß sie Rosenquarz, Wolfsfigur und Adlerfeder kaum erkennen konnte. Wenn sie die Augen schloß, sah sie Traumwolf, der sie aus seinen gelben Augen aufmerksam betrachtete.
- Traumwolf, dachte sie, wozu hat mir Silver Bear diese drei Dinge geschenkt?
- Diese Frage hätte ich dir schon viel früher beantworten können, wenn du mich früher gefragt hättest.
- Sei nicht beleidigt. Ich habe Zeit gebraucht, um zu verstehen, was Silver Bear damit meinte, daß ich niemals allein wäre.
- Gut, daß du es jetzt endlich verstehst. Also: Die Adlerfeder ist für die schamanische Schau. Sie ermöglicht es dir, dich emporzuschwingen und Reisen zu unternehmen, von denen du heilendes Wissen mit zurückbringst. Ich bin dein Totemtier, wie Silver Bear es nennen würde, obwohl die alten Völker dieses Landes andere Namen für mich hatten. Die kleine Wolfsfigur enthält meine Kraft. So bin ich immer bei dir und helfe dir. Im Rosenquarz glüht das wärmende Feuer der Erde. Er schenkt deinem Herzen Wärme und die Macht zu heilen. Genügt das einstweilen, oder hast du weitere Fragen?
Chris starrte nachdenklich auf Feder, Wolfsfigur und Kristall. Sie bedankte sich bei Traumwolf und sah ihn auf den Pfaden ihrer Träume davoneilen. Sie wußte jetzt, daß sie ihn jederzeit herbeirufen konnte, wenn sie die kleine hölzerne Figur in die Hand nahm und an ihn dachte.
Jonas setzte sich im Stuhl auf und rieb sich den Nakken. „Schlecht geträumt?“ fragte er schlaftrunken.
„Ich glaube, ich sollte endlich Freundschaft mit meinen Träumen schließen“, sagte Chris. „Ich sollte mich nicht mehr gegen sie wehren, sondern versuchen, aus ihnen zu lernen.“
Jonas tastete im Halbdunkel nach dem
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