Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
nicht von einer Stimme in ihrem Kopf getröstet werden.
Jonas räusperte sich und sagte: „Ich weiß, daß du ein großes Mädchen bist und keine Angst im Dunkeln hast, aber du brauchst dich nicht zu schämen, wenn du heute nacht nicht allein sein willst. In meine leere Wohnung zieht‘s mich, ehrlich gesagt, auch nicht besonders.“
Chris atmete auf. „Vielleicht können wir noch ein bißchen zusammensitzen und reden, bis es draußen hell wird“, sagte sie leise.
Abgesehen von dem Rauschen des Windes in den Bäumen war es im Park völlig still. Als Jonas Chris am frühen Abend abholte, hatte sie ihn nicht hereingebeten, sondern draußen auf dem Parkplatz auf ihn gewartet. Jetzt führte sie ihn ins Forsthaus, und ihr wurde bewußt, daß, abgesehen von Dr. Wegmeier und Fred Schmitz, den sie einmal mit seiner Frau zum Essen eingeladen hatte, hier noch nie ein Mann bei ihr zu Besuch gewesen war. Sie zeigte Jonas ihre kleine Wohnung: das ziemlich enge Bad, die Küche, die groß genug war, daß ein Eßtisch mit vier Stühlen hineinpaßte, das einzige, aber immerhin recht geräu-mige Zimmer.
Dort schaute sich Jonas interessiert um. „Du hast es wirklich gemütlich hier“, sagte er anerkennend und ganz offensichtlich froh, sich für den Moment mit etwas anderem beschäftigen zu können als dem Entsetzlichen, Unbegreiflichen, das hinter ihnen lag. Er betrachtete das Hundertwasser-Bild, das sie aus einem Kalender ausgeschnitten und gerahmt hatte. Sie mochte Hundertwassers organische, wie natürlich gewachsen wirkende Ornamente und Farbenspiele.
„Ja. Das ist mir wichtig geworden. Jahrelang habe ich nur in irgendwelchen unbequemen Buden gehaust, die ich mir meist noch mit anderen Wissenschaftlern teilen mußte. Aber das war mir damals gleichgültig. Mein Sinn für Schönheit war mir, glaube ich, völlig abhanden gekommen. Jetzt entdecke ich ihn allmählich wieder.“
Jonas lächelte. „Das ... freut mich für dich. So eine Art Heilungsprozeß, nehme ich an?“
Chris hob die Schultern. „Schon möglich. Jedenfalls möchte ich, wenn ich auf meinem Futon sitze und mich in meinem Zimmer umschaue, überall etwas Schönes sehen, das mir Freude macht. Die Pflanzen da, die Bilder, das Mandala hier ... meine Wohnung soll eine behagliche Höhle sein, in die ich mich zurückziehen kann. Aber natürlich läßt sich die Welt nicht aussperren. Wenn draußen schreckliche Dinge passieren ...“ Sie schloß die Augen und schüttelte den Kopf.
Jonas setzte sich mit einem erschöpften Seufzer in den alten Schaukelstuhl, den die Wegmeiers ihr geschenkt hatten.
Chris fragte ihn, ob er etwas trinken wolle. Er rieb sich müde die Stirn und murmelte, ein Glas Sprudel wäre nicht schlecht. Sie mußte in den Keller, eine frische Mineralwasserflasche heraufholen. Als sie mit der Flasche und zwei Gläsern ins Zimmer zurückkehrte, war Jonas im Schaukelstuhl eingeschlafen. Leise stellte sie Flasche und Gläser auf das Tischchen zwischen Stuhl und Futonbett, goß die Gläser voll, nahm das eine und setzte sich damit auf den Futon. Während sie mit langsamen Schlucken trank, betrachtete sie den schlafenden Jonas. Er hatte sich nur wenig verändert. Sein schmales Gesicht mit der großen Nase war etwas ausgeprägter und kantiger geworden, sein immer noch widerspenstiger dunkler Haarschopf von ersten Silberfäden durchzogen. Seine großen, aber schlanken Hände waren tief gebräunt, ebenso wie das Gesicht.
Auf der Hinfahrt zu Honadel hatte er ihr erzählt, daß er jetzt in dem alten Haus wohnte, das er von seinen Großeltern geerbt und selbst renoviert hatte. Es sei eine Heidenarbeit gewesen, den völlig verwilderten Garten dahinter wieder herzurichten, aber das Gärtnern mache ihm großen Spaß. Er habe es ganz neu für sich entdeckt und fände es sehr entspannend. Er könne dabei so schön nachdenken. Chris stellte sich lächelnd vor, wie Jonas nach Dienstschluß in einem Gemüsebeet herumwerkelte, zwischendurch innehielt und sich mit erdigen Fingern nachdenklich die Nase rieb.
Sein Kopf war seitlich auf die Schulter gesunken. Wenn er aufwachte, würde ihm möglicherweise der Nacken weh tun. Sie überlegte, ihn zu wecken und ihm anzubieten, sich zu ihr zu legen. Doch dann entschied sie, ihn schlafen zu lassen, stellte das Glas weg, nahm sich eine Wolldecke und knipste das Licht aus. Denke immer daran, daß du nicht allein bist , hatte Silver Bear gesagt. Sie rollte sich auf dem Futon zusammen, starrte in die Dunkelheit und lauschte auf
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