Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
in den Hals die Schlagader zu durchtrennen wie bei dem toten Geheimagenten. Der Mann hatte gerufen, er wolle sich jemanden „holen“. Hatte er dem Wolf so etwas wie einen telepathischen Befehl erteilt? Aber das war doch kompletter Irrsinn. Völlig unvorstellbar!
Rex war ein so beeindruckendes, faszinierendes Tier gewesen! Mit der besonders ausdrucksvollen Fellzeichnung seines Wolfsgesichts und seiner kräftigen Statur hatte er etwas sehr Stolzes und Würdevolles ausgestrahlt. Chris spürte, daß er ihr in den vergangenen Monaten ans Herz gewachsen war. Nun würde sie ihn nie mehr wachsam auf seinem Aussichtshügel am Rand des Geheges stehen sehen, nie mehr beobachten können, wie er mit den Welpen spielte oder zärtlich Zoras Fell liebkoste.
Fetzen aus einem Traum, die in Chris‘ Bewußtsein auftauchten wie die grauen, flackernden Bilder eines alten Stummfilms. Wolf sprang über die Hügel, schöner, großer, geschmeidiger Wolf. Traumwolf . Ihr nächtlicher Spielkamerad damals, als sie ein Kind war. Er hatte ihr alles erzählt, was sie wissen wollte. Wenn er sie aus seinen klugen gelben Augen anschaute, hörte sie seine Worte, nicht mit den Ohren, sondern als leise, freundliche Stimme in ihrem Kopf. Nie hatte sie sich als Kind im Dunkeln gefürchtet. Immer war Traumwolf bei ihr gewesen und hatte sie beschützt.
- Ich bin immer noch da, sagte die leise Stimme, du mußt nur glauben , daß ich da bin, dann kann ich dir helfen.
Chris preßte die Fingerspitzen an die Schläfen. „Nein“, sagte sie laut. Ich bin erwachsen, ich unterhalte mich nicht mit Traumgestalten, die nur in meiner Phantasie existieren!
- Ohne mich hättest du überhaupt keine Phantasie, flüsterte Traumwolfs leise Gedankenstimme. „Sei still!“ Erschrocken schaute Chris sich um, aber niemand schien ihr Selbstgespräch bemerkt zu haben.
Offenbar hatte sie Traumwolf verscheucht, denn in ihr stellte sich eine klare Ruhe ein. Sie blickte hoch zu den Sternen, die unbeirrt funkelten, was auf der Erde auch immer Schreckliches geschehen mochte. Honadels Haus hinter ihr war ein groß aufragender Schatten. Die Luft war schwer und feucht. Am Zaun standen Nachbarn und versuchten dahinterzukommen, was sich im Haus des Bürgermeisters abgespielt hatte. Chris hörte, wie sie über die sonderbaren Sätze diskutierten, die der Fremde ihnen zugerufen hatte.
Kindheitserinnerungen tauchten aus dem Nebel auf, in dem sie lange Jahre verborgen gewesen waren. Auf ihren nächtlichen Streifzügen hatte Traumwolf Chris alle Geheimnisse des Landes gezeigt. Er hatte sie mit den Geistern aller Tiere und Pflanzen bekannt gemacht, die in dem Gebiet um Buchfeld lebten, und sie hatte mit ihnen anregende Unterhaltungen geführt, an deren Details sie sich nicht mehr erinnerte. Wie alt war sie damals gewesen? Sieben, acht Jahre?
Nach der Abfahrt der Polizeiwagen kam Jonas mit Sabine, ihrem Vater und den beiden Kindern durch die Vordertür. Die Gesichter der Kinder wirkten im matten Licht der Straßenlaterne bleich und ernst. Chris fragte sich, ob man ihnen schon gesagt hatte, daß sie ihren Vater nie wiedersehen würden. Chris hatte Sabine geholfen, das viele Blut abzuwaschen, ehe sie vorhin mit dem Großvater nach oben zu den Kindern gegangen war. Sabine versuchte ein tapferes Kopfnicken, als sie an Chris vorbeiging, aber es gelang ihr nicht besonders gut. In ihrem Gesicht zitterte und zuckte es. Jonas half Honadels Vater, ein paar eilig gepackte Taschen und Koffer zu dessen Mercedes zu tragen. Dann ging er noch einmal zum Haus zurück, löschte das Licht und schloß die Vordertür ab.
Chris hörte Autotüren schlagen. Dann sprang der Dieselmotor des Mercedes nagelnd an. Jonas ging auf sie zu.
„Komm“, sagte er, „ich fahre dich nach Hause.“ Er sah sehr erschöpft aus.
Auf der Fahrt zum Wildpark gab es in ihrem Kopf keine Worte, nur ein dumpfes, schmerzendes Pochen. Ab und zu schaute sie zu Jonas hinüber, der schweigend hinter dem Lenkrad kauerte. Er fuhr einen nicht mehr ganz neuen Opel Caravan, weiß, etwas nüchtern, praktisch, ein Wagen, der gut zu ihm paßte. Sie hätte sich Jonas nicht in irgendeinem extravaganten Lifestyle-Auto vorstellen können. Als der Wagen über die Holzbrücke rumpelte und das Forsthaus vor ihnen aus der Dunkelheit auftauchte, bekam Chris Angst vor dem Alleinsein. Vielleicht würde sie schreckliche Träume haben, und es würde niemand in der Nähe sein, wenn sie aufwachte. Traumwolf war nur ein Schemen aus ihrer Kindheit. Sie wollte
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