Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
Waldrand war eigentlich keine zutreffende Bezeichnung, denn genaugenommen befanden sie sich mitten im Wald. Die Schneise für die Autobahn fraß sich durch ein großes, zusammenhängendes Laubwaldgebiet. Links und rechts der Trasse, die sie planierten, und gut fünfzig Meter vor ihnen, wo die bisherige Rodung endete, glänzten die hohen, silbrigen Buchenstämme nackt, ohne schützende Sträucher und Büsche, in der Sonne. Josefs Raupe befand sich vielleicht zwanzig Meter vom rechten Rand der Trasse entfernt. Langsam drehte Josef den Kopf und schaute noch einmal nach rechts.
Augenpaare, die ihn neugierig bei der Arbeit beobachteten. Viele Augenpaare. Und es war ausgeschlossen, daß solche Augenpaare sich dort befanden. Josef kannte Wölfe, konnte durchaus einen Wolf von einem Hund unterscheiden. In seiner Heimat in Südostpolen hatte er seinen Großvater, der Förster gewesen war, ab und zu auf die Jagd begleitet. Er wußte, wie lebendige Wölfe aussahen, hatte seinen Großvater Wölfe schießen gesehen und ihm dabei helfen müssen, ihnen das Fell über die Ohren zu ziehen. Eine blutige Arbeit, vor der er sich immer sehr geekelt hatte. Wölfe waren die wohl scheuesten Tiere, die man sich vorstellen konnte. Obwohl es in den Wäldern Südostpolens Hunderte von ihnen gab und sie immer wieder Haustiere rissen, bekam man sie so gut wie nie zu Gesicht. Selbst einem so geschickten Jäger wie seinem Großvater war es nur selten gelungen, einen Wolf vor die Büchse zu bekommen.
Josef schloß die Augen, öffnete sie wieder. Die Wölfe waren noch da. Viele Wölfe, ein großes Rudel. Wolfsgesichter im flimmernden Licht der Morgensonne zwischen den Buchen. Wölfe, die nichts so sehr fürchteten wie den Menschen, standen dort seelenruhig, mit leicht gesenkten Köpfen unter den Bäumen, keine dreißig Meter von den lärmenden Planierraupen, Baggern und LKWs entfernt, und schauten ihnen bei der Arbeit zu. Er drehte den Kopf entschlossen wieder nach vorn. Heilige Madonna , flüsterte er auf polnisch. Die Raupe ruckte an, schob den nächsten Baumstumpf. Es mußte an dem Traum liegen. Vermutlich hatte dieser Traum ihn so verstört, daß er jetzt in ein paar flimmernden Schatten zwischen den Bäumen schon Wölfe zu sehen glaubte. Außerdem gab es in der Eifel, soweit er wußte, überhaupt keine Wölfe. Am Alkohol konnte es nicht liegen, denn Josef trank keinen Tropfen, nichts, kein Bier, keinen Schnaps. Die Kollegen machten sich deswegen oft über ihn lustig.
Josef schob noch drei mächtige Baumwurzeln, die an riesige, anklagend zum Himmel gekrümmte Hände erinnerten, zu dem Haufen. Dann war Zeit für die Frühstückspause. Er schaltete den Diesel aus, nahm die Ohrenschützer ab und kletterte von der Raupe herunter. Er widerstand dem Drang, über die Schulter zu den Bäumen zu blicken. Nein, da konnten keine Wölfe gewesen sein, nur Sonnenlicht und Schatten. Doch er spürte ein seltsames Kribbeln im Nacken, als ob jemand ihn von hinten beobachtete. Heilige Madonna, steh uns bei , murmelte er leise auf polnisch.
Langsam ging er über den zerwühlten und von breiten Raupenspuren durchzogenen Humusboden, in den seine Arbeitsschuhe weich einsanken, zu den anderen Männern hinüber. Sie saßen vor dem gelben Bauwagen in der Morgensonne, tranken Bier und aßen Wurstbrote. Josef wußte, daß ihre Arbeit Sünde war. Er wußte es noch nicht lange, erst seit gut zwei Wochen. Gott hatte es ihm selbst gesagt. Er hatte in der Kirche gekniet und gebetet, als er plötzlich Gottes leise Stimme hörte. Josef , hatte Gottes Stimme zu ihm gesagt, es ist Sünde, solche Wunden in das Gesicht der Erde zu graben. Es wird Zeit, daß du dir eine andere Arbeit suchst . Ja, hatte Josef geflüstert, wenn das dein Wille ist, will ich ihn befolgen. Aber erlaube mir noch diesen einen Sommer. Ich habe fast alles Geld zusammen, das ich brauche, um in Polen neu anzufangen. Der Priester, dem er bei der Beichte davon erzählt hatte, wollte ihm die Sache ausreden: Es komme öfter vor, daß Menschen eine leise Stimme hörten, die sie für die Stimme Gottes hielten. In Wahrheit handele es sich bei dieser Stimme aber nur um ihr eigenes Unterbewußtsein. Schließlich übe Josef als Baggerfahrer einen anständigen Beruf aus, bei dem er auf ehrliche Weise sein Geld verdiene. Das könne unmöglich eine Sünde sein.
Doch Josef war sicher, die Stimme Gottes von der Stimme seines eigenen Unterbewußtseins unterscheiden zu können. Womöglich war Gott jetzt zornig mit ihm, weil
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