Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
hinüber in die Küche.
Der Wolf hatte jetzt zu zittern aufgehört. Jonas nahm die ebenfalls blutbeschmierte Fernbedienung und schaltete den Fernseher ab, um dieses unerträgliche Geplapper zum Schweigen zu bringen. Er hörte oben Nadine und Tim leise weinen. Verdammt. Rasch ging er wieder hinaus auf die Veranda. Nachbarn versammelten sich am Zaun.
„Was ist denn los? Sollen wir die Polizei rufen?“
„Die ist schon da“, sagte Jonas. „Wo sind die Wölfe und
der Mann, der bei ihnen war?“
„Sind im Wald verschwunden“, sagte eine ältere Frau.
„Was hat das alles zu bedeuten? Was hat der Mann damit gemeint, daß das Land stirbt und wir mit ihm?“
Jonas hatte nicht die leiseste Ahnung. „Morgen ... werden wir mehr wissen.“ Das klang wenig überzeugend. Er schob das Kinn vor und bemühte sich, so viel polizeiliche Autorität wie möglich in seine Stimme zu legen. „Gehen Sie jetzt wieder nach Hause. Hier gibt es nichts zu sehen.“
Er machte die Verandatür von innen zu, durchquerte das Zimmer, den Blick fest auf die Diele geheftet, löschte das Licht und machte die Tür zu. Zum Glück blieben die Kinder oben. Auf keinen Fall durften sie ihren Vater so zu Gesicht bekommen. Chris saß mit Sabine in der Küche und wiegte sie in den Armen. Als Jonas vom Telefon in der Diele aus die Nummer der Wache wählte, sah er die Tasten durch einen Tränenschleier. Er informierte Schöntges und rief Sabines Vater an. Dann ging er nach oben, um nach den Kindern zu sehen.
Mitten in der Nacht, irgendwann zwischen zwei und drei Uhr, stand Chris müde vor Honadels Haus und sah zu, wie die beiden Leichen abtransportiert wurden. Auch der Staatsanwalt und die Beamten der Spurensicherung gingen wieder zu ihren Autos.
Der Staatsanwalt, ein kleiner, untersetzter, etwas asthmatischer Mann, war ziemlich fassungslos gewesen. Chris hatte ihm mehrfach bestätigen müssen, daß es sich bei dem toten Tier tatsächlich um Rex, den Leitwolf des Rudels aus dem Wildpark, handelte. Er bevorzugte eindeutig die Version, daß es sich um einen „zugegebenermaßen sehr wolfsähnlichen Hund“ handeln mußte, der von einem „offenbar geistesgestörten Täter aus noch aufzuklärenden Motiven auf den Bürgermeister gehetzt“ worden war, hatte Chris‘ Aussage aber zu Protokoll genommen. Zunächst hatte er die Vermutung geäußert, Honadels Ehefrau hätte „in akut wahnhaftem Zustand“ sowohl den „Wolfshund“ als auch ihren Mann mit dem Messer getötet. Als er Honadels Leiche näher in Augenschein nahm, hatte er aber zugeben müssen, daß dessen tödliche Halsverletzung eindeutig von Reißzähnen und nicht von einem Tranchiermesser hervorgerufen worden war.
Als Jonas im Zusammenhang mit dem befreiten Wolfsrudel den Namen Gablenz erwähnt hatte, schien bei dem Staatsanwalt irgend etwas „klick“ zu machen. Sein Atem klang plötzlich noch pfeifender, und er verschwand nach draußen, um ungestört zu telefonieren. Als er zurückgekehrt war, hatte er mit, wie Chris fand, sehr amtlicher und offizieller Miene verkündet, jede Verbindung zwischen Dr. Gablenz, einem hochangesehenen Wissenschaftler, der für ein Großunternehmen von einwandfreiem Ruf arbeite, und diesem abscheulichen Verbrechen sei kategorisch auszuschließen. Mehr könne er in dieser Angelegenheit nicht sagen, aber morgen würden Spezialisten des BKA vor Ort eintreffen und sich des Falles annehmen.
Chris fand es seltsam, daß auch der tote Wolf in einem Blechsarg abtransportiert wurde. Sie hörte, wie einer der beiden Polizisten, die den Sarg trugen, mit bemüht wirkender Lässigkeit witzelte: „Scheiße, dieses Beweisstück ist eine Nummer zu groß für unsere Plastikbeutel.“ In einen solchen Plastikbeutel hatten sie das Tranchiermesser gepackt, und ein Fotograf hatte Bilder von Honadel und Rex und den Blutlachen im Wohnzimmer gemacht. Am großen Medizinrad nehmen alle Geschöpfe einen gleichberechtigten Platz ein, hatte Silver Bear gesagt. Daher hätte der alte Medizinmann es wohl begrüßt, daß auch Rex die Ehre eines Sarges zuteil wurde.
Chris‘ Gedanken waren quälend immer wieder um die Frage gekreist, was um alles in der Welt Rex veranlaßt haben mochte, die Geborgenheit des Rudels zu verlassen, allein in dieses für ihn völlig angstbesetzte Gebiet einer menschlichen Wohnsiedlung vorzudringen, sich durch eine offene Verandatür zu schleichen und jenen Mann zu töten, den er zuvor schon am Bein verletzt hatte. Ihn zu töten wie eine Jagdbeute. Und beim Biß
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