Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
weg, dort, wo der Dom stand, Blitze zucken zu sehen. Dann war es vorbei. Von einer Sekunde zur anderen herrschte völlige Ruhe. Natürlich hing immer noch der Lärm von Sirenen und Martinshörnern über der Stadt, und die gepeinigten Mauern der Häuser stöhnten und knirschten. Aber der Boden war wieder vollkommen ruhig, da war keine Vibration mehr, kein Beben.
Unsicher stand Susanne auf. Sie dachte an Chris. Mit angesengten, zerrissenen Kleidern und dreckverschmiertem Gesicht ging sie langsam durch die zerstörte Straße. War Chris noch am Leben?
»Hat mein... Gebet etwas genützt?«, murmelte Susanne leise und wischte sich Tränen von ihren rußigen Wangen. Als sie eine Weile gegangen war, fuhr plötzlich ein ramponierter, verbeulter Streifenwagen langsam an ihr vorbei. Sie winkte. Der Wagen hielt an. »Fahrt ihr in die Innenstadt?«, fragte sie und merkte, dass ihre Stimme heiser war von dem vielen Rauch und Staub, den sie eingeatmet hatte.
»Wir versuchen es zumindest«, antwortete einer der beiden uniformierten Kollegen.
»Dann nehmt mich mit.«
Ehe Susanne einstieg, warf sie einen Blick in Richtung Dom. Sie sah, dass die schwarzen Wolken sich aufzulösen begannen und erste Sonnenstrahlen über den Dächern der Stadt leuchteten.
Für einen Augenblick glaubte Chris im Nichts zu schweben. Dann erkannte sie, dass dieses Nichts gar kein Nichts war, sondern ein gewaltiger, lebendiger, atmender Körper. Der Körper der Erde. Und Chris war ein Teil dieses Körpers, eine Zelle in seinem Gewebe. Wälder waren seine Lungen, Bäche und Flüsse seine Adern. Chris spürte, welcher Schmerz sich in der Haut der Erde angestaut hatte, die seit Jahrhunderten durch die eisernen Erdnadeln gereizt wurde; sie erkannte, wie sehr die ständig im Übermaß durch das Leynetz fließende Energie das Gleichgewicht gestört hatte, besonders seit die Menschen die geomantischen Gesetze missachteten. Überall hatten kastenförmige, rechteckige Gebäude, an denen es keinerlei Rundungen und pflanzliche, fließende Formen mehr gab, das Land überwuchert und blockierten die weibliche Erdenergie.
Chris spürte die Wut, unter der das Land erzitterte. Mit ihrem zweiten Gesicht sah sie, wie diese Wut in einer ungeheuren Katastrophe hervorbrach. Ein Erdbeben legte ganz Köln in Schutt und Asche, der Rhein verließ sein Bett und überflutete die Kölner Bucht, die Erschütterungen breiteten sich bis in die Eifel aus, wo die schlafenden Vulkane erwachten und das Land unter einem Feuer-und Ascheregen begruben. Den Ausbruch dieser Wut der Erde mitzuerleben war wie ein Rausch, eine gewaltige Befreiung, eine völlige Entfesselung aller Kräfte.
Du selbst bist die Träumerin des Traumes, sagte plötzlich eine leise Stimme aus dem Nichts. Wenn du dich dieser düsteren Untergangsvision hingibst, wird sie Wirklichkeit. Du bist eine Schamanin, das ist deine Bestimmung. Du bist Traumweberin. Du musst heilende Träume weben. Schenke der Erde gute, Segen bringende Träume.
In diesem Moment merkte Chris, wie ihr eigener Körper sich entspannte. Natürlich. Deswegen war sie hergerufen worden. Ich bin eine Abenteuer-Schamanin, dachte sie, ich gebe niemals auf, ehe ich nicht in der inneren Welt, die ich bereise, eine positive Veränderung herbeigeführt habe. Ich besitze die Kraft meiner Phantasie. Sofort konzentrierte sie sich auf die Vorstellung, dass sie den Körper der Erde mit riesigen, gefühlvollen Händen streichelte und massierte, bis die blockierte, aufgestaute Energie sich lösen und sanft abfließen konnte. Mit leiser Stimme sang sie dazu ein heilendes schamanisches Lied, das ihr Silver Bear vor Jahren beigebracht hatte.
Irgendwann öffnete Chris die Augen. Sie sah den Steinboden des Geheimen Gewölbes und die verblasste Farbe des Sonnensymbols. Langsam setzte sie sich auf. Das grelle Licht der drei Erdnadeln war zu einem matten blauen Glimmen erloschen, das die schattenhafte Leere zwischen den Säulen des Gewölbes nur noch schwach erhellte. Völlige Stille herrschte. Chris schaute an sich herab. Sie fürchtete grausig verbrannte und entstellte Haut zu sehen. Aber da war nichts. Ihr ganzer Körper war heil und unversehrt. Vorsichtig stand sie auf. Sie fühlte sich etwas wackelig auf den Beinen, doch es ging. Ein plötzlicher Schreck durchzuckte sie, als sie an den Engel mit dem Flammenschwert und die Dämonen dachte. Ängstlich blickte sie umher, aber sie war allein. Dann sah sie, dass etwas Dunkles am Rand des Sonnensymbols lag. Sie ging darauf zu
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