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Wendland & Adrian 02 - Die Krypta

Wendland & Adrian 02 - Die Krypta

Titel: Wendland & Adrian 02 - Die Krypta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Görden
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abgenutzten Linoleumboden landen. Chris stand auf und schloss das Fenster. Ich brauche ihn gar nicht zu öffnen, dachte sie, ich weiß ja, was drinsteht. Dann bückte sie sich aber doch, nahm den Brief, ließ sich schwerfällig auf den Boden plumpsen, riss das Kuvert auf und las ihn sich selbst laut vor: »Trotz mehrfacher Abmahnung ...
    blabla ... kündigen wir Ihnen hiermit fristlos ... blabla ... haben Sie die Ihnen zur Verfügung gestellte Dienstwohnung innerhalb von vier Wochen zu räumen ... Hochachtungsvoll... «
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie aber sofort wegwischte. »Arschlöcher«, knurrte sie und stand auf. Nachdem sie den Brief in den Papierkorb geschleudert hatte, stapfte sie aus dem Büro. Als sie unten an der Futterküche vorbeikam, sah sie Fred Schmitz drinnen herumhantieren. Er nickte ihr aufmunternd zu. Offenbar merkte er an ihrem Gesichtsausdruck, was los war. Als sie durch den Flur zur Tür ging, sagte er hinter ihr: »Chris, wenn's nach mir ginge, würde ich dich gerne als Chefin behalten, und die anderen sehen das auch so.« Sie drehte sich um und brachte ein Lächeln zustande. »Danke«, sagte sie.
    Sie lief ziellos im Park herum, in dem sie nun fast zwei Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Sie besuchte die Ponys, Ziegen und Schafe, die Hochlandrinder, die Fischotter, die Wildkatzen, die Dachse, die Raubvögel, die Hirsche und Wildschweine. Sie dachte an die Seminare, die sie hier gerne durchgeführt hätte.
    Dann stand sie vor dem Gatter, hinter dem ein Waldweg hinauf auf den Dachsberg führte, wo sie ihre Vision empfangen hatte. Silver Bear hat sich geirrt, dachte sie. Ich tauge nicht zur Schamanin.
    Wie ein Echo zu diesem Gedanken zerrte der Wind an Chris' kleinem Zopf und bog die Bäume am Rand der Waldwiese, auf der sie und Jonas sich geliebt hatten, letzten Sommer. Das Gras, das ihr damals die Haut gekitzelt hatte, war lange abgemäht.
    Achte auf die Zeichen am Weg, hatte Silver Bear oft gesagt. Waren diese Zeichen nicht offensichtlich? Wohin hat mein Weg als Schamanin mich denn geführt?, dachte sie. Ich habe Jonas verloren und meine Arbeit hier im Park, und obwohl ich immer wieder die Rituale ausgeführt habe, die Silver Bear mir beibrachte, scheint meine Verbindung zum Land immer schwächer zu werden. Vielleicht akzeptiert das Land hier mich nicht mehr als seine Hüterin, oder ich habe meine Vision damals falsch gedeutet - so, wie die Vision von Jonas, die ich gestern oben auf dem Dachsberg hatte. Ich dachte, alles wird gut - und stattdessen ist er gegangen.
    Von der Bärin war auch nichts mehr zu bemerken. Ihr neues Krafttier schien sich in entlegene innere Wälder zurückgezogen zu haben, in die hintersten Winkel von Chris' Geist. Dabei hatte Chris oben auf dem Berg die Energie der Bärin so deutlich gespürt. »Etwas Bärenkraft könnte ich jetzt wirklich gut gebrauchen«, murmelte sie. Chris stützte sich schwer auf das Gatter, starrte über die Waldwiese zu den im Wind tanzenden Baumwipfeln und rang sich zu einer Entscheidung durch. Ja. Es war vorbei. Sie wollte, dass es vorbei war. Silver Bear war tot. Und sie würde die Last nicht länger akzeptieren, die er ihr auf die Schultern gelegt hatte. Warum sollte sie einer Bestimmung folgen, die ihr nur Probleme einbrachte? Warum machte sie es sich so schwer? Sie war Diplombiologin. Sie konnte eine solide wissenschaftliche Ausbildung vorweisen. Ich könnte alles hinter mir lassen und neu anfangen, dachte sie. Ich könnte meine früheren Kontakte aus der Zeit des Studiums wieder auffrischen. Bestimmt finde ich einen Job in irgendeinem Naturschutzprojekt, als ganz normale Zoologin. Ohne Rituale. Ohne merkwürdige Träume. Ohne Krafttier. Das hast du früher schon versucht, und es hat nicht funktioniert, meldete sich eine leise, nagende innere Stimme zu Wort. Immer wenn du deine schamanische Gabe zu leugnen versuchtest, hat sie sich gegen dich gewandt, dich mit Albträumen und Depressionen gequält, bis du schließlich bei einem Psychiater gelandet bist, der dir Psychopharmaka verordnete. Willst du es wieder so weit kommen lassen? Aber ich bin jetzt älter und stärker, dachte Chris trotzig. Ich habe mich besser im Griff. Ich werde Silver Bears Abschiedsbrief verbrennen und die Asche in den Wind streuen. Ich werde das alles vergessen. Und sollte ich doch noch Stimmen von Steinen, Pflanzen oder Tieren hören, werde ich so tun, als wären sie nicht da.
    Tönsdorf saß in Susannes Büro, die Hände vor dem Bierbauch gefaltet

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