Weniger arbeiten, mehr leben
durchzusetzen, in dieser Zeit nahm der Mythos »Kind und Karriere? Kein Problem!« seinen Anfang. Der Tenor dieses modernen Aberglaubens war: Es kommt nicht unbedingt auf die Quantität, sondern vor allem auf die Qualität der mit der Familie verbrachten Zeit an. Im Prinzip – und das hört man auch heute noch häufig – sei alles eine Frage der Zeiteinteilung, des ausgeklügelten Job- und Familien-Managements. Liebevoller Vater/treu sorgende Mutter, erfolgreicher Verkäufer und smarte Abteilungsleiterin auf einmal – alles eine Frage des Zeitmanagements.
Ein Ideal mit folgenschweren Konsequenzen, noch immer, noch heute, bei Frauen wie bei Männern. Denn der Mythos ist einer ernüchternden Erkenntnis gewichen: Der Versuch, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen, führt Eltern oft bis an die Grenzen der geistigen und körperlichen Belastbarkeit. Ein Top-Manager/eine Top-Managerin der/die wie ein Ass funktioniert, stets gut schläft, vor Einsatzwillen nicht kleinzukriegen ist, nach der Arbeit abschaltet, um den Kindern daheim die Sorgen vor der nächsten Klassenarbeit zu nehmen und am Wochenende mit ihnen Angeln geht – zugegeben, das mag es tatsächlich geben. Vielleicht einmal unter Tausend. Der Regelfall sieht allerdings so aus, dass Menschen, die 50 oder mehr Stunden in der Woche arbeiten und in einem fordernden Job ihren Mann und ihre Frau stehen, ganz einfach nicht mehr die Kraft und Nerven aufbringen, sich anschließend den kleinen und großen Lebensproblemen anderer Menschen zu widmen, sich intensiv um eine harmonische Partnerschaft zu bemühen oder Freundschaften zu pflegen. Die Männer und manchmal Frauen an der Spitze der Wirtschaft bieten denn meist auch kein geeignetes Vorbild für ein gelungenes Gleichgewicht zwischen beruflichem Engagement und erfüllendem Privatleben. Top-Manager Jürgen Schrempp von DaimlerChrysler etwa bekannte in einem Gespräch mit Journalisten: »Ich stand vor der |62| Alternative: Arbeit oder Ehe. Und ich habe gemerkt, die Herausforderung der neuen Aufgabe bedeutet mir mehr als alles andere auf der Welt.« Bitter an diesem Bekenntnis ist vor allem eines: Jene Unternehmen, die die Konzernchefs von heute lenken, wird es in zwanzig oder dreißig Jahren längst nicht mehr geben. Das Ruder haben dann Leute übernommen, die wieder alles anders machen und sich für ein im Grunde völlig abstraktes Ziel verausgaben. Die Kinder der einstmaligen Management-Heroen aber sind dann fünfundzwanzig oder dreißig Jahre alt und werden sich an ihre Väter höchstens als Leute erinnern, die ihnen außer dem Nachnamen nicht viel mit auf den Weg gaben.
Dass es auch anders geht, sogar an der Spitze, erklärte der vielfache Vater und langjährige Geschäftsführer der Unternehmensberatung Arthur D. Little, Tom Sommerlatte, im Gespräch mit der
Wirtschaftswoche
(Nr. 32/2000): »Die Fähigkeit, beispielsweise eine Familie durch dick und dünn aufzubauen und durch Verbundenheit voranzubringen, äußert sich in der Beratungsfirma in Form von Kollegialität, Teamgeist und Loyalität und den Klienten gegenüber durch Pflege einer langfristigen, kooperativen Beziehung, die viel befriedigender ist, als die geschäftserheischende Beziehungsraffinesse.« Fast überflüssig zu erwähnen, dass dies auch für Freundschaften gilt – mithin generell für die Fähigkeit, ein stabiles soziales Netzwerk zu errichten und auch in schwierigen Zeiten mit Leben zu erfüllen.
Die Hotel-Managerin Nadine B. war sich in all den Jahren ihres atemlosen Vorankommens
insgeheim stets bewusst, dass dies vor allem um den Preis familiärer und
sozialer Defizite geschah. Sie sah allerdings lange Zeit keine Alternative. Nach der
Geburt ihrer beiden Kinder arbeitete sie konsequent vom Telefon aus weiter,
anschließend übernahmen Kinderfrauen und Tagesmütter große Teile der Erziehung
. Das hohe Einkommen federte anfangs viele Unannehmlichkeiten ab. Bis sie
eines Tages ihre Tochter vom Kindergarten abholte und eine der Kindergärtnerinnen
fragte: »Ach, Sie sind die Mutter?« Da wurde ihr klar, dass sie im Begriff war,
das Leben ihrer Kinder wie ein lästiges Projekt auf andere zu delegieren.
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|63| Führungskräfte – führend auch beim Arbeitspensum
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass alles halb so schlimm ist. Die Arbeitswelt wandelt sich – und es wird immer weniger gearbeitet. Laut Statistischem Bundesamt sank die durchschnittliche Arbeitszeit aller Erwerbstätigen in Deutschland von
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