Weniger sind mehr
werden regelrecht als ein politisches Ziel und als ein politisches Kapital definiert. Dementsprechend gibt es mit steigender Kinderzahl auch steigende staatliche Zuwendungen, dazu großzügige steuerliche Förderungen von privaten Kinderbetreuungskosten sowie weitere Investitionen in die staatliche Kinderbetreuung. Alle französischen Kinder ab drei Jahren besuchen die ganztätige Vorschule, die »École Maternelle«. Diese Institution wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts gegründet, |244| weil der laizistische Staat die Kindererziehung nicht der Kirche überlassen wollte. Heute ermöglicht es die Ganztagsbetreuung von 8 bis – manchmal – 18 Uhr, dass die Frauen ungestört berufstätig sein können. Auch die Krippenplätze für kleinere Kinder werden vermehrt. Der Bürgermeister von Paris, der Sozialist Bertrand Delanoe, ließ seine geräumige Dienstwohnung im Rathaus zur Kinderkrippe umbauen. Und auch der konservative Premier Dominique de Villepin kündigte neue Krippenplätze an. 18 Der Konsens zugunsten der Berufstätigkeit von Müttern ist in Frankreich so umfassend und parteiübergreifend, dass selbst konservative Politiker die außerhäusliche Betreuung von Kleinstkindern befürworten.
Gerade das aber lässt Zweifel aufkommen, ob es vorwiegend die Politik ist, die mit ihren Maßnahmen die Geburtenrate beeinflusst. Viel mehr scheint die Politik nur ein Mosaikstein in einem größeren kulturellen Wirkungszusammenhang zu sein, in dem viele Faktoren und Subsysteme sich gegenseitig beeinflussen, ihre Stärken gegeneinander auszuspielen versuchen, dabei an die Grenzen ihrer Macht stoßen und sich gegenseitig in Dienst nehmen, so auch Politik und Kultur. Wo es so aussieht, als ob die Politik mit ihren Maßnahmen die familiaren Lebensformen und Wert und Zahl von Kindern bestimmen könnte, sind es in Wirklichkeit lange gewachsene und miteinander verzahnte Wertvorstellungen, nach deren Pfeife die Politiker tanzen müssen, wenn sie denn über die Zustimmung der Wähler Macht erhalten und bestärken wollen.
Nicht die französische Politik hat in den letzten Jahren die nationale Kultur der Mutter-Kind-Beziehung geformt. Es war umgekehrt das gesellschaftliche Leitbild der unabhängigen Frau, die sich nicht zur Gebärmaschine, aber auch nicht zu einem kinderlosen oder -armen Wirtschaftssubjekt herabwürdigen lässt, das den Politikern die einschlägigen Maßnahmen und Parolen zugunsten der Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft in die Feder diktierte. Eine im mittel- und südeuropäischen Vergleich |245| relativ hohe Geburtenziffer ist die Folge. Aber eben nicht Folge von politischen Maßnahmen, sondern, viel früher, von weiblicher sexueller, sozialer und politischer Unabhängigkeit.
Sie ist nicht erst aus der Französischen Revolution hervorgegangen. Sie kündigte sich schon vorher an, in der Freizügigkeit, Liebesverspieltheit, Libertinage, romantischen Ebenbürtigkeit, ja handfesten Macht der Mätressen in der höfischen Gesellschaft. Nicht zuletzt fand diese Unabhängigkeit und Stärke der Frauen ihre Symbolfigur in Jeanne d’Arc. Es handelt sich um eine merkwürdige Unabhängigkeit der Frauen nicht nur gegenüber ihren Männern, sondern auch gegenüber ihren Kindern. Sie lässt sich schwerlich messen – und ist doch sogleich spürbar, wenn man etwa als junger Mann von Deutschland nach Frankreich zieht und unwillkürlich in den Vergleich von Frau-Mann-Beziehungen diesseits und jenseits des Rheins hineingezogen wird.
Was die Unabhängigkeit der Französinnen gegenüber ihren eigenen Kindern angeht, ist das Buch
Mutterliebe
von Elisabeth Badinter kennzeichnend . 19 Es ist kaum vorstellbar, dass eine deutsche Autorin die Liebe der Mutter zum Kind so distanziert analysiert und historisch relativiert hätte. Dass die französische Geburtenrate sich eigenständig und unabhängig von den Raten der Nachbarländer entwickelt, kann nur sehr vordergründig durch die Qualität der französischen Familien- und Bevölkerungspolitik erklärt werden. Es liegt viel mehr an der besonderen Unabhängigkeit, die die Französinnen gewonnen haben. Man mag diese mit Fug und Recht Individualismus nennen. Er bedeutet nicht, dass man sich sozialen Beziehungen entzöge – im Gegenteil: Er entsteht durch eine entschiedene Teilnahme an verschiedenen Lebensbezügen, in diesem Falle besonders Familie und Beruf; von der freien Liebe zu schweigen.
Das Lebensgefühl weiblicher Unabhängigkeit ist nur zum kleinsten Teil ein Resultat von
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