Weniger sind mehr
Politik. Es ist ein lange und langsam gewachsenes, dafür umso stabileres Element von Kultur. Und es ist ein Element kultureller (und familialer) Selbststeuerung – mit |246| scheinbar gegensätzlichen Folgen: Im 19. Jahrhundert hat es dazu geführt, dass die Kultur der libertären Erotik und die Empfängnisverhütung Frankreich zum geburtenärmsten und damit zum reichsten und modernsten Land Europas machten. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts bewirkt das gleiche Element kultureller Selbststeuerung die relative weibliche Autonomie, dass die französische Geburtenrate deutlich höher liegt als die deutsche, italienische, spanische.
Ob man in dem geburtenfördernden Zusammenwirken von Politik und Kultur der Politik eine führende Rolle einräumt oder sie, wie hier dargestellt, eher als Ausfluss tiefgründiger und langfristiger Kulturprozesse sieht – die Eigenständigkeit des französischen Sonderweges in Kontinentaleuropa hat dem Land in den letzten Jahrzehnten einen beträchtlichen Kinderreichtum beschert. Französische Politiker träumen davon, dass es in 50 Jahren mehr Franzosen als Deutsche geben könne. Ob Frankreich damit Deutschland überflügelt? Und in welcher Hinsicht?
Vor Beantwortung der Fragen empfiehlt es sich, zunächst einmal darauf zu achten, was der kulturell-politische Sonderweg Frankreichs im Lande selbst anrichtet. Wenn Kultur und Politik so nahtlos ineinandergreifen, können sie allem Anschein nach den Fall der Geburtenrate aufhalten. Ein Erfolg für das politische System. Aber mit welchen Folgen? Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Frankreich durchgehend doppelt so hoch wie in Deutschland. In den Vorstädten der Großstädte erreicht sie 40 bis 50 Prozent. Die Unzufriedenheit der Jungen macht sich in Unruhen und Brandstiftungen Luft. Brennende Autos sind ein Fanal. Sie werden zum Signum eines relativen Reichtums an Jugend, der politisch gewollt, sozialpolitisch gepäppelt und bildungspolitisch bedient wird: Die Jugendlichen sprechen Französisch, gehen in französische Schulen und sind französische Staatsbürger. Aber diese Zeichen kultureller und politischer Integration schützen nicht vor Gewalt. Im Gegenteil: Sie schaffen Ansprüche, die enttäuscht werden, wo ökonomische Integration und soziales Ansehen ausbleiben.
|247| In Gesellschaften, die reich an gärender Jugend sind, ist der Schritt in die Gewalt damit vorgezeichnet. Ohnehin sind jugendliche Gesellschaften gewaltsamer als die von Greisen. Ganz prägnant aber lässt sich der Zusammenhang zwischen enttäuschter Jugend und Gewalt herausarbeiten. Als in den neunziger Jahren in manchen amerikanischen Städten und Staaten die Gewalt deutlich zurückging, wurde dies unter anderem mit der Alterung der Bevölkerung erklärt. Es war aber nicht Geburtenrückgang schlechthin, der, mit einer Zeitverzögerung von 15 Jahren, zum Rückgang der Aggressionsraten führte. Vielmehr war es die Freigabe der Abtreibung, also ein politischer Akt, der zur Folge hatte, dass speziell sozial schwache Mütter und Milieus weniger Kinder zur Welt brachten. Die Kinder aber, die geboren wurden, erlebten im Durchschnitt eine höhere »soziale Qualität« und wurden heranwachsend sozioökonomisch besser integriert. Eine unvorhergesehene, im Ergebnis aber erwünschte Folge liberaler Politik. 20
Was das französische und das amerikanische Beispiel gleichermaßen zeigen: Wenn viele Kinder geboren werden, die mit dem Credo der Chancengleichheit und der Verheißung beruflicher Integration heranwachsen, macht sich die Enttäuschung in offener Gewalt und latenter Aggressivität Luft. Was von der Politik so lebhaft beklagt wird, ist doch auch von ihr zu verantworten. Denn eine Bevölkerungspolitik, gestützt auf das kulturelle Kapital der Eigenständigkeit französischer Frauen, kann zwar Geburtenraten hoch halten. Mit diesem seinem »Erfolg« überfordert das politische System sich aber selbst. Denn seine Macht reicht nicht aus, um für die heranwachsenden Jugendlichen, auf deren große Zahl es mit nationalem Stolz blickt, Arbeitsplätze zu schaffen. Die Eigenlogik des wirtschaftlichen Systems, das nur so viele Jugendliche aufnimmt, wie seine ökonomische Rationalität gebietet, steht dem entgegen.
Ließe man die Wirtschaft schalten und walten, würde sie durchaus mehr junge Leute aufnehmen: zu niedrigeren Löhnen |248| und vermindertem Kündigungsschutz. Aber dagegen stellt sich wiederum die fürsorgliche Politik des Sozialstaats. Und wo diese, wie im vergangenen Jahr
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