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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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in Frankreich, zugunsten liberaler Kündigungsregelungen beziehungsweise Probezeiten etwas zurückgenommen werden soll, gehen die Studenten auf die Barrikaden. Sie zeigen, wo die Politik an die Grenzen ihrer Macht stößt: dort, wo die Werte der sozialen und arbeitsrechtlichen Absicherung auf dem Spiel stehen, die gerade auch die Eliten für sich in Anspruch nehmen. Hier gilt es ein Stück Kultur zu verteidigen. Und in dem Machtdreieck zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur erweist sich die Selbstbehauptung der Kultur als die stärkere Kraft.
    Allen, die dagegen glauben, dass die relativ hohe Fertilitätsrate in Frankreich und den skandinavischen Ländern aus der Politik resultiere, müssen die angelsächsischen Länder ein Dorn im Auge sein. In Großbritannien ist die Fertilitätsrate etwa genauso hoch (1,8 Kinder pro Frau), in den USA noch deutlich höher (2,1 Kinder pro Frau), ohne dass Familienpolitik dort in nennenswerter Weise eingegriffen hätte. Im Gegenteil, eine Familien- und Geburtenpolitik kontinentaleuropäischer Art sucht man im angelsächsischen Raum vergeblich. Hier gilt die Devise: so wenig staatlicher Eingriff wie nötig, so viel Eigenverantwortung wie möglich. Das liberale Modell vertraut dabei nicht nur auf die Selbstverantwortung der Individuen, sondern auch auf die Selbststeuerung der Familien.
    In den USA, wo man nicht in einen Sozialstaat einwandern konnte und kann, weil es keinen gab, waren Familien, ethnische Gruppen und Nachbarschaften immer schon das Rückgrat sozialer Sicherung als Selbsthilfe. Kinder wurden und werden gebraucht. Im Umkehrschluss lässt sich sagen, dass die kontinentaleuropäische Lösung mit ihrer staatsweiten Kollektivierung sozialer Sicherung familieneigene Kinder überflüssig gemacht hat. Man kann auf die Kinder der anderen zurückgreifen.
    Die Politik hat damit den von ihr heute bekämpften Geburtenmangel unbeabsichtigterweise selbst befördert. Aber die staatliche |249| Rundumversorgung gilt nunmehr so sehr als eine Errungenschaft mitteleuropäischer Kultur, dass eine liberale Politik, wenn sie das Ruder herumlegen wollte, dagegen nicht ankäme. Die Macht der Kultur ist eben überall stärker als die der Politik. Die Aufforderung Wilhelm von Humboldts, der Staat müsse sich jederzeit bewusst bleiben, dass er »immer hinderlich ist, sobald er sich hineinmischt, dass die Sache an sich ohne ihn unendlich besser gehen würde«, 21 ist in Deutschland, wenn nicht vergessen, so doch wirkungslos geworden.
    Das Humboldtsche Diktum, das über jeder zeitgenössischen Version sozialer Selbststeuerung stehen könnte, ist in die angelsächsischen Gesellschaften ausgewandert. Dort gibt es einen kulturell verankerten, quasi parteiübergreifenden Liberalismus, der den Namen verdient. Dass der Familie am besten geholfen sei, wenn sie sich selbst helfe und der Staat die Finger davon ließe, ist eine in Deutschland kaum vorstellbare, in Großbritannien dagegen gängige Idee. Wegen der Vereinbarkeit von Beruf und Kindern wenden sich die Frauen, insbesondere die besserverdienenden, nicht an den Staat, sondern kümmern sich selbst. Der Liberalismus der britischen Ökonomie hilft ihnen dabei. Der offene britische Arbeitsmarkt zieht Millionen Einwanderer aus den Philippinen, Südafrika, neuerdings auch Osteuropa an, die mit geringem bürokratischem Aufwand und zu erschwinglichen Preisen von Privatleuten im Haushalt eingestellt werden können. Kurze Elternzeit und wenig Geld vom Staat bewegen die Mütter dazu, nach einer Geburt zügig ins Berufsleben zurückzukehren. Kurze Studienzeiten machen es Akademikerinnen schon in jungen Jahren möglich, beruflich voranzukommen, bevor die Familiengründung das Tempo bremst.
    Allerdings: Das liberale Modell mit wenig staatlichem Schutz hat auch seine Kehrseite: Das Risiko für eine Alleinerziehende, in die Armut abzurutschen, liegt bei 50 Prozent – so hoch wie in keinem anderen westeuropäischen Land. 22 Im Fazit jedoch zeigt sich, dass in Großbritannien sowohl die Erwerbsbeteiligung von |250| Müttern als auch die Geburtenziffern höher sind als in Deutschland. Die Fixierung des deutschen Blicks auf staatliche Subventionen, um die Geburtenrate anzuheben, ist aus angelsächsischer Perspektive abwegig – Ergebnis eines deutsch-mitteleuropäischen Sonderweges, auf dem der Staat, Schäfer und Schäferhund zugleich, die Richtung vorgab, die Herde antrieb und zusammenhielt. Wo es den Staat in diesen Rollen nicht gab, haben Familie und andere

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