Weniger sind mehr
(schmerzhaft) spürbar wird, kann positiv auch als eine soziokulturelle Entwicklungsstufe zweier funktionaler Sozialsysteme, Wirtschaft und Familie, gedeutet werden. Als gewachsene und verankerte Eigenschaft des Wertsystems, also deutscher Kultur, kann sie weder durch politische Phrasen noch durch Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf kurzerhand aus der Welt geschafft werden. Deutschland ist eben nicht Frankreich und nicht Skandinavien. Und genauso wenig wie jede andere Kultur ist die deutsche in der Lage, sich aus ihren Nachbarkulturen jeweils das herauszupicken, was die Wortführer einer bestimmten Politik oder Ideologie für das Richtige und Bessere halten. Was für Skandinavien und Frankreich lobend-vorbildhaft und hoffnungsvoll hervorgehoben wird – die gleichzeitige Steigerung von Frauenerwerbstätigkeit und Fertilitätsrate –, ist jedenfalls in Deutschland bislang nicht zu beobachten. Hier scheinen sich vielmehr Arbeitgeber und berufstätige Frauen in einer wenn nicht ausgesprochenen, so doch klammheimlichen Koalition darauf verständigt zu haben, der Berufstätigkeit den Vorrang und der Mutterschaft das Nachsehen zu geben.
Dabei haben sich in den letzten Jahrzehnten die Arbeits- und Bildungsmärkte für Frauen weit geöffnet. Heute gehen mehr Frauen als Männer aufs Gymnasium und die Universität, schließen mit besseren Noten ab und drängen ins Berufsleben: Zwischen 1991 und 2004 wuchs die Zahl der erwerbstätigen Frauen um 1,1 Millionen, während die der Männer um 1,4 Millionen sank. Sind die Vorausrechnungen der Demografen richtig, dass ab 2010, also schon in drei Jahren, wegen der geburtenschwachen Jahrgänge das Angebot an arbeitssuchenden jungen Leuten kleiner sein wird als die Nachfrage der Wirtschaft, dann wird diese noch mehr Frauen an sich ziehen und zu längeren Arbeitszeiten verlocken. Ihre Integrationskosten sind geringer als die von Zuwanderern, ihre Neigung zu modernen Dienstleistungsberufen und ihre soziale und zeitliche Anpassungsfähigkeit |57| übertrifft die der Männer – vorausgesetzt, es sind keine Kinder da.
Deshalb ist zu vermuten, dass tatsächlich noch weniger Kinder geboren werden als bisher. Die Wirtschaft kann sie ja nicht verwenden, frühestens in 20 bis 25 Jahren, und das ist ihr zu spät. Noch schlimmer: Kinder machen der Wirtschaft Arbeitskräfte abspenstig. Sie konkurrieren mit ihr um hochqualifizierte Frauen. Und in der Regel gewinnen die Kinder diesen Wettbewerb. Denn im deutschsprachigen Raum ziehen sich Frauen, die Mütter werden, auf halbe Stellen oder ganz aus dem Beruf zurück, wenn sie ein Kind und erst recht, wenn sie mehrere Kinder bekommen. Der Leitwert der Mutterliebe gebietet es. Trotz aller aufklärerischen Empörung, progressiver Witzeleien, feministischen Gegenreden, pädagogischen Fingerzeigen auf Frankreich und Skandinavien, sogenannten Infrastrukturmaßnahmen und politischen Proklamationen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Dies hat sich über Jahrzehnte nicht geändert. Es ist offenbar kulturell tief verwurzelt – mächtiger als politische Ideologien und Interessen der Wirtschaft.
Auch wenn Mütter im Beruf bleiben: Ihre Kinder sind für die Wirtschaft weiterhin ein Ärgernis und eine Konkurrenz. Mit ihren Krankheiten, Unfällen, kleinen und großen Lebenssorgen konkurrieren sie mit dem Arbeitsplatz um die Präsenz, das Engagement und die Konzentration der Mutter. Was Wunder, dass die Wirtschaft Kinder ablehnt, sich durch Kinder bedroht fühlt. Ihr liebstes Kind sind die jungen Frauen, die keine Kinder haben. Aber gerade sie verkörpern eine andere Drohung: dass doch noch Kinder geboren werden!
Da man dies nicht ein für alle Mal abwenden kann – etwa durch die schriftliche Selbstverpflichtung, keine Kinder zu bekommen –, ist es besser, sich damit zu arrangieren, dass der schlimmste Fall eintritt: die Geburt. Große Unternehmen können damit leben und machen aus der Not eine Tugend: Durch eigene Kinderbetreuung, großzügige Arbeitszeit- und Vertretungsregelungen |58| zeigen sie: »Seht her, wie kinder- und mütterfreundlich wir sind!« Der Fantasie sind an dieser Stelle tatsächlich keine Grenzen gesetzt. Und sowohl im Hinblick auf die eigenen Beschäftigten als auch für die Konsumenten und die weitere Öffentlichkeit kann ein kinderfreundliches Unternehmensimage sich auszahlen. Hier leuchtet ein Hoffnungsschimmer für Leute mit Kindern. Kleine Betriebe, in denen jede Arbeitskraft ausgelastet ist und präsent sein muss,
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