Weniger sind mehr
Erwerbsleben über; und seine Härte erscheint uns, von heute aus gesehen, unerträglich.
»Kinderarbeit« ist verboten, aber die moderne Wirtschaft braucht sie ohnehin nicht. Und die ausgedehnten Jugendjahre heute sind die ungeplanten Begleiterscheinungen einer Leistungsdynamik, die sich ihre eigenen Phasen schafft. Die verlängerte Jugend ist zugleich Schonzone, Spielfeld, Vorplatz, Vorbereitung, Zuspitzung, ja Überspitzung einer Logik der Leistung – man denke nur an die über 15 Sprossen ausgespreizten Notenskalen der Abitur- und Diplomzeugnisse.
Längere Studienzeiten werden in Deutschland als unproduktiv beklagt. Vergessen wird dabei, dass die meisten Studierenden schon mit einem Fuß im Berufsleben stehen. Als WerkstudentInnen, AssistentInnen, EDV-BeraterInnen probieren sie aus, wo sie am besten hingehören – so wie die Firmen ausprobieren, wen sie gebrauchen können und wen nicht. Wenn es dann erst |63| mit 28 Jahren zu einem regelrechten Arbeitsverhältnis kommt, ist dieses nicht nur mit formalen Qualifikationen, sondern auch mit mannigfaltigen Lernprozessen durch Versuch und Irrtum angereichert. Es ist in der Regel um ein Vielfaches produktiver als das eines 22-jährigen Grünschnabels, der nach kurzem Studium sofort in den Beruf eintritt. Das notwendige Übel des Jobbens und Geldverdienens neben dem Studium bedeutet eine gar nicht so üble Pufferzone zwischen Jugend und Erwachsenenwelt. Sie macht das Berufsleben geschmeidiger und verschafft ihm Spielräume, die in Regularien des Arbeits- und Tarifrechts immer wieder verloren zu gehen drohen.
Puffer- und Grauzonen sind die Sache von Reformern und Ideologen nicht. Sie wollen klare Verhältnisse. Was die Verlängerung der Arbeitszeit nach oben angeht, heißt das heute: von 65 auf 67 Jahre. Doch die wirklichen Verhältnisse haben längst einen anderen Weg eingeschlagen: Heute sind von den über 60-Jährigen bereits 70 Prozent aus dem beruflichen Leistungssystem ausgeschieden. Warum nutzt die Wirtschaft nicht deren Sachverstand und zum Teil beträchtliche Vitalität und Gesundheit? Haben ihr die Sozialpolitiker nicht vorgerechnet, dass dadurch die sozialen Sicherungssysteme saniert würden? Und ist nicht ein großer Teil der modern-öffentlichen Gerontologie von dem Impetus beseelt, zu beweisen, was die Alten alles können – wenn man sie bloß ließe? In intellektuellen Kreisen ruft man sich die Namen der schöpferischen Alten zu – Goethe! Michelangelo! Picasso! –, um zu beweisen, dass es für Innovationen keine Altersgrenze gäbe. Dabei werden die Ausnahmen von der Regel genommen. Die Regel ist, dass die ständigen Neuerungen der Technologien, der Organisationsformen, der Märkte den meisten älteren Beschäftigten über den Kopf wachsen. Wenn die Wirtschaft sie ziehen lässt, dann nicht aus humanitären Gründen, sondern weil sie, zumindest bei dem hohen Gehalt, das sich nach vielen Berufsjahren ergibt, gemessen an der Dynamik der Verhältnisse unflexibel und unwirtschaftlich geworden sind.
|64| Die heutige Diskussion weiß dazu Rat, und zwar einen, der einmütig von allen geteilt wird: mehr Flexibilität. Bravo, möchte man da rufen: »Die große Armut kommt von der großen Powerteh her.« (Fritz Reuter) Nicht nur den berühmten Dachdeckern, deren Beruf auch körperlich hochgefährlich ist, wird zur Präzisierung der Flexibilität vorgeschlagen, Neues zu lernen und rechtzeitig den Beruf zu wechseln. Das klingt zeitgemäß. Es ist somit vor kritischem Nachdenken geschützt. Aber es vergrößert das Problem, statt es zu lösen. Denn nur diejenigen haben eine Chance, mit 65, 70 oder 75 noch zu arbeiten, die gerade
nicht
umlernen müssen. Die Schriftsteller, Künstler, Professoren, Rechtsanwälte, vielleicht auch Ingenieure und Facharbeiter, sofern sie bei ihrer Arbeit bleiben und/oder in ihrer vertrauten Gruppe von einer meist informellen Arbeitsteilung getragen werden: Jüngere steuern Schnelligkeit und Frische, das »Veloziferische« (Goethe), Innovationswissen bei, etwa in der Kommunikationstechnologie und Recherche, die Älteren eher »soziales Kapital«, ihre Erfahrungen im Umgang mit Konflikten, Kunden, Klienten, Kollegen. Nur in solchen besonderen, eher stabilen sozialen Konstellationen, können auch die Älteren noch hinreichend produktiv sein. Aber soziale Stabilität dieser Art kann niemand garantieren: die Politik nicht, die Gerontologie nicht, die Arbeitswissenschaft nicht und auch nicht die Wirtschaft. Sollte es allerdings gelingen,
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