Weniger sind mehr
Umweg wird sie zu einem Wirtschaftsinteresse. Weil es zur nationalen Moral gehört, dass alle Arbeitslosen und sozial Schwachen ihr Auskommen haben sollen, muss die Wirtschaft direkt, über Versicherungsbeiträge, also Lohnnebenkosten, oder indirekt, über Steuern, für sie aufkommen. Deshalb ist es wirtschaftlicher und wirtschaftsfreundlicher, weniger Arbeitslose zu haben. Was die Wirtschaft aber genuin braucht, sind offene Arbeitsmärkte für junge Erwachsene.
Der Haupteinwand dagegen lautet, es sei nicht einfach, Arbeitskräfte aus aller Herren Länder wirtschaftlich einzugliedern. Sie sollen die Sprache beherrschen und verstehen können, müssen wohnen, am sozialen Leben teilhaben. Das kostet etwas. Die liberale Lehre der klassischen Einwanderungsländer lautet: Für ihre Integration müssen diejenigen sorgen und aufkommen, die herkommen. Sie tun dies oft mithilfe ihrer Herkunftsfamilien, mit der Unterstützung von ethnischen Netzwerken und Brückenköpfen. In Europa, besonders in Deutschland dagegen hält man die Integration für eine national-moralische Verpflichtung des aufnehmenden Staates. Die Folgen zeigen sich: Je mehr man die Integrationsverpflichtung den Zuwanderern abnimmt, desto Integrationsschwächere zieht man an. Einen Teil der Integrationskosten – für Sprachkurse, Wohnungsvermittlung und so |61| weiter – können die Unternehmen den Zuwanderern abnehmen. Sie müssen es aber nicht. Sie werden wirtschaftlich kalkulieren, ob es sich lohnt. Das gehört zum Wesenskern der Wirtschaft. Sie kalkuliert eine Möglichkeit immer auch in Abwägung zu einer anderen.
Noch eine weitere Möglichkeit hat die Wirtschaft, sich von (nichtgeborenen) Kindern als späteren Arbeitskräften unabhängig zu machen. Sie kann die Beschäftigten, über die sie bereits verfügt, besser qualifizieren. Und sie kann ihre Lebensarbeitszeit verlängern, nach hinten (Rente mit 67) und nach vorn (früherer Berufseinstieg). Warum werden diese Möglichkeiten so wenig genutzt, obwohl sie der Wirtschaft doch von allen Seiten, insbesondere von Bildungs- und Sozialreformern, ununterbrochen angesonnen werden? Die Antwort ist schlicht, aber erläuterungsbedürftig: Es ist nicht wirtschaftlich.
Obwohl Wirtschaftsbetriebe im normalen Alltag und natürlich auch, wenn sie über eigene Werkstätten und eigene Ausbildungsmöglichkeiten verfügen, unendlich viel mehr für die Qualifikation ihrer Beschäftigten tun, als wir es mit unserer Fixierung auf formale Qualifikationsprozesse ahnen, ist doch Vorbildung, Bildung und Fortbildung schon lange nicht mehr im Funktionssystem der Wirtschaft unterzubringen. Es hat wichtige und mächtige Funktionssysteme eigener Art ausgebildet. Sie sind so eigenmächtig geworden, dass sie in Deutschland die jungen Leute häufig bis zu Beginn des vierten Lebensjahrzehnts festhalten.
Dass die Jungen früher ins Berufsleben einsteigen, ist der Traum aller Bildungs-, Universitäts- und Rentenversicherungsreformer. Jüngere und noch intensiver qualifizierte Leute – wenn dies gelänge, bräuchte die Wirtschaft paradoxerweise einige Geburtenjahrgänge weniger. Der Traum vom frühen Einstieg ist übrigens Wirklichkeit für die nichtakademischen, besonders für die sehr einfachen Berufe. Und er war es früher für fast die ganze Bevölkerung. Mit 14 Jahren begann mein Vater in den Stahl- und Walzwerken Rasselstein AG in Andernach zu arbeiten |62| ; mit 65 hörte er auf. Auch seine Schwestern gingen 14-jährig als Hausmädchen oder Büglerin aus dem Haus oder halfen der Mutter. Um 6 oder 5 Uhr – manche, aus entfernteren Dörfern um 4 Uhr – machten sich die jungen Leute auf den Weg in den Betrieb. Heute würde man sie dort so jung überhaupt nicht brauchen können und gleich wieder wegschicken – erst mal zur weiteren Ausbildung, zum Gymnasium oder zum Studium. Um den Anforderungen hochproduktiver Prozesse gerecht zu werden, brauchen sie nicht nur Fachkenntnisse oder Disziplin, sondern auch die Fähigkeit zur Kommunikation, Kooperation, zu Konflikten und Konfliktregelungen. Je höher Ökonomien entwickelt sind, desto mehr sind sie auf nichtökonomische Vorleistungen angewiesen.
Dem dienen die verlängerten Jugendjahre. Könnten Bildungs- und Sozialplaner sie mit ihrem Zauberstab am grünen Tisch zurückverwandeln in Berufsjahre, dann gliche dieser »Fortschritt« einer Reise in die Vergangenheit. Je weiter wir zurückschauen, desto kürzer wird die Jugend und desto schneller geht Kindheit, fast umstandslos, ins
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