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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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sowohl im Mikrokosmos der Wirtschaftsbetriebe als auch in der Wirtschaft als Ganzes solche Horte sozialer Stabilität einzurichten, dann ist damit auch eine wichtige Bedingung für die Beschäftigung von Älteren erfüllt. Eine andere wäre die Anpassung der Arbeitslöhne an die steigende oder fallende Produktivität, zusammen mit Arbeitszeitregelungen, die dem Alter der Menschen und der Wirtschaftlichkeit der Unternehmen entsprechen.
    Je besser dies aber gelingt, umso eher kann das Funktionssystem Wirtschaft allerdings wiederum auf einige Geburtenjahrgänge verzichten.
    |65| Die Produktivitätsspirale oder die Wirtschaftlichkeit der Wirtschaft
    Die Wirtschaft, wenn sie von Kindern, Älteren, Ungebildeten, Unbeweglichen, Unbedarften Abstand nimmt, ist weder dumm noch unmenschlich. Sie folgt ihrem eigenen Stern. Vordergründig leuchtet er als Profit (oder
shared value
). Im Innersten ist der Leitwert der Wirtschaft aber schlicht das Wirtschaften selbst: mit geringerem Aufwand ein besseres Ergebnis erzielen. Dass sich der Aufwand besonders an unqualifizierter Arbeit verringert und dabei die Produktivität der Arbeit erhöht, macht den Wesenskern und die Steigerungsdynamik des Wirtschaftens aus. Die Steigerung der Produktivität ist denn auch die Erklärung für das, was die Wirtschaft mit den Menschen tut: Sie stößt diejenigen ab, die, gemessen an ihrem Lohn, nicht mehr oder noch nicht genug produktiv sind. Sie braucht, trotz erhöhter Produktion, weniger Menschen als früher. Bei denjenigen, die sie braucht, achtet sie auf das günstigste Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Es kann bei denjenigen, die im Ausland angeworben werden, günstiger sein als bei hierzulande Geborenen, bei Frauen ohne Kinder günstiger als bei Menschen, die Kinder bekommen, direkt oder indirekt: Hohe Produktivität der Arbeit erzeugt niedrige Reproduktivität.
    Das »Gesetz sinkender Reproduktivität durch steigende Produktivität« kann auch, dramatisierend, als »Vernichtung oder Erübrigung von menschlichem Nachwuchs durch ökonomische Effizienz« bezeichnet werden. Der Kinderreichtum oder die natürliche Jugend, auf die die menschliche Spezies seit Hunderttausenden von Jahren gesetzt hat, wird durch eine Art künstliche oder soziokulturelle Jugend ersetzt. Das Verdrängen von Reproduktivität durch Produktivität scheint selbst die Kraft eines Naturgesetzes zu haben.
    Wie im Laborversuch zeigte es sich nach dem Wendejahr 1989: Die Rosskur der Produktivitätssteigerung, der sich die ostdeutsche Wirtschaft unterziehen musste, leitete auf der Stelle einen |66| dramatischen Fall der Geburtenrate ein. Weniger aufregend, aber nicht minder deutlich, zeigt sich der Zusammenhang zwischen Reproduktivität und Produktivität im Kulturvergleich der industrialisierten Länder. In den USA kommt es den Unternehmen besonders auf Gewinnsteigerung an, die mit vielen billigen Arbeitskräften erzielt werden kann. Die Produktivität der Arbeit ist deshalb in den USA geringer als in Deutschland oder Japan, wo man statt auf Rendite auf erhöhte Wirtschaftlichkeit der Produktion eingeschworen ist. Die Fertilitätsrate in den USA ist deshalb mit 2,1 um rund ein Drittel höher als in Deutschland oder Japan. Innerhalb Westeuropas wiederholt sich dieser Zusammenhang. Es wurde bereits an früherer Stelle in diesem Kapitel gezeigt, wie in den Zeiten des Franc und der D-Mark die französische Wirtschaft mit Abwertungen des Franc den Produktivitätsvorsprüngen der deutschen Wirtschaft hinterherlief, während die französische Fertilitätsrate der deutschen voranging. Die weniger produktiven Gesellschaften wie USA und Frankreich weisen relativ mehr Jugend auf als diejenigen mit höchster Produktivität, zu denen die Bundesrepublik und Japan gehören. Je höher die Höhen der Produktivität, zu denen sich eine Gesellschaft aufschwingt, desto tiefer sinkt ihre biologische Reproduktionsrate. Die beiden so unterschiedlichen Dinge wie wirtschaftliche Produktivität und familiale Reproduktivität scheinen also nicht nur an sich negativ zusammenzuhängen, sondern variieren auch mit dem kulturellen Kontext.
    Welche Faktoren wirken zusammen, um den wirtschaftlichen Ertrag je Arbeitsstunde zu erhöhen? Kapital, technische und organisatorische Neuerungen, dazu nötige Fantasie, angeregt durch Forschung und Fachschulen, handwerkliche Ausbildung; die enge Zusammenarbeit von Unternehmern, Ingenieuren, Facharbeitern, begünstigt durch soziale Nähe ohne Klassen- und ethnische

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