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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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Schranken; Loyalität und Leistungsmotivation der Belegschaften in Antwort auf das soziale Engagement der Unternehmer; institutionalisierte Mitbestimmung und Tarifautonomie ... diese |67| Bedingungen und andere mehr fallen einem für den deutschsprachigen Raum ein. In den angelsächsischen und romanischen Kulturen finden sie sich weniger. So wurde die Bundesrepublik eine Produktivitätsgesellschaft par excellence, in der alles, wie vom Zauberstab berührt, zur Produktivitätssteigerung geriet und gerät: Arbeitszeitverkürzung und Lohnsteigerungen, die zur weiteren Rationalisierung, zu weiteren Lohnsteigerungen und zu weiteren Arbeitseinsparungen führen; Gewerkschaften, die durch ihre Forderungen diese Steigerungsspirale in Bewegung halten; das soziale Netz, das die Arbeitslosen auffängt. Die Steigerungsspirale der Produktivität ist von solcher Kraft, dass sie mit einer Reihe von Paradoxien fertig wird. Im deutschen Modell waren nicht niedrige, sondern hohe und steigende Löhne der Motor des Ganzen. Sie zwingen die Unternehmer, Arbeit einzusparen, also Arbeitsproduktivität zu steigern. Daraufhin können die Löhne steigen. Dies stachelt die Unternehmer zu neuen Fantasieleistungen an, wie man Arbeit durch modernste Technologie ersetzt und so fort.
    Produktivitätssteigerung, die zunächst als rein wirtschaftlicher Vorgang erscheint, enthüllt sich, je genauer man sie analysiert, als etwas viel weiter Gespanntes, als Herzstück einer kulturellen Gesamterscheinung. Dabei bedeutet Kultur das Beziehungsgeflecht, das als voraussetzungsreiches, nicht geplantes Beiwerk aus planvollem ökonomischen und politischen Handeln erwächst. Kultur ist ein Gemeinschaftswerk, an dem Generationen unbewusst und ungewollt arbeiten, während sie etwas anderes wollen und bezwecken.
    Wenn die biologische Reproduktivität von Industriegesellschaften erlahmt, während ihre wirtschaftliche Produktivität weiter steigt, so heißt das, dass mit immer weniger Menschen immer mehr produziert wird. Vordergründig sind es die Individuen, die produktiv sind, in Wirklichkeit aber die lokalen, regionalen und nationalen Einheiten. Es ist erstaunlich, wie stark die unternehmerische Leistung an diesen Nährboden und Nabel gebunden ist. |68| Im Zeitalter der Globalisierung wandert zwar das Kapital, aber Unternehmer und Firmen, obwohl den Abzug ständig androhend, bleiben in der angestammten Kultur. Ausnahmen bestätigen die Regel und zeigen, manchmal im Desaster, wie stark kulturelle Grenzen empfunden werden, wenn ökonomische und politische Grenzen gefallen sind. Das gilt auch im Rahmen der europäischen Einigung: von einer kulturindifferenten Einheitswirtschaft und einem homogenen Einheitsstaat keine Spur.
    So wie die Produktivitätssteigerungsrate tatsächlich eine plausible Erklärung für den langfristigen Fall der Geburtenrate darstellt, so wäre es andererseits unangemessen, diesen Zusammenhang für sich allein zu behaupten. Was hier als eine Grund- und Eigenlogik der Lebenssphäre Wirtschaft dargestellt wurde, ist nicht denkbar ohne die Unterstützung und die Grenzen anderer funktionaler Sphären mit ihren jeweils eigenen Leitwerten: das System sozialer Sicherung, das System der Familie, das System der Politik, um nur die wichtigsten zu nennen, die im Folgenden behandelt werden. Alle diese Systeme sind immer eingebettet in ein System nationaler und transnationaler Kulturen (wie wir in Kapitel 5 »Der Geburtenrückgang im Kampf der Kulturen« sehen werden).
    Die Wirtschaft an sich ist nicht unser Schicksal, von dem alles abhinge, auch die Zahl der Geburten und Kinder. Sie ist ein System unter anderen, hinter denen der an Émile Durkheim geschulte Soziologe letztlich eine andere Macht am Werke sieht. Es sind die kollektiven, von vielen geteilten moralischen Gefühle. Sie sind die Grundmotoren allen sozialen Lebens. Sie
sind
die Gesellschaft. Die verschiedenen Leitwerte der Systeme – Wirtschaftlichkeit, soziale Sicherheit, Liebe, Macht und Legitimität und so weiter – sind bestimmte Auswuchtungen, die die von allen geteilten moralischen Gefühle dadurch bekommen, dass sie in unterschiedlichen sozialen Lebenssphären zum Leitwert werden. Von dort aus durchdringen sie im Grunde, wenn auch nicht mit gleichem Gewicht, die Leitwerte anderer Systeme. Sie beeinflussen |69| aber auch die Gesellschaft insgesamt in allen uns vertrauten alltäglichen Erscheinungen, so auch in der Zahl der Kinder, die geboren werden.

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