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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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Soziale Sicherung – ohne Nachwuchs ?
    Nirgends klingt der Pessimismus der Demografen überzeugender als beim Thema soziale Sicherung. »Immer weniger Junge müssen immer mehr Alte mitversorgen«, das ist der Tenor der Debatte. Der Schluss erscheint logisch angesichts des Zusammentreffens von Geburtenrückgang und Vergreisung. Doch was so plausibel anmutet, ist schon im Ansatz irreführend. Denn »die Jungen« – Kinder und Jugendliche, oft bis Ende 20 – unterhalten in der modernen Gesellschaft niemanden, meist nicht einmal sich selbst. Sie werden unterhalten. Und zwar von Erwachsenen, nicht nur solange diese berufstätig sind, sondern oft bis in deren Rentenalter hinein. Auf jeden Fall sind es nicht die Jungen, die die Altenlast tragen, sondern die Hochleister der mittleren Jahre und die rüstigen Älteren. Sie versorgen alle diejenigen mit, die sich nicht selbst tragen können. Sie sind durch Alte
und
Junge belastet. Wären die Fertilitätsraten tatsächlich so hoch, wie es als wünschenswert angestrebt wird – nämlich über zwei Kinder pro Frau –, dann müssten diese Leistungsträger der Gesellschaft noch mehr Menschen versorgen.
    Die mittleren Jahre – wie weit sie sich auch spannen mögen – tragen immer eine dreifache Last: Sie sorgen für die Älteren, für die Jungen und für sich selbst. Von den Älteren können sie sich so wenig befreien wie von sicht selbst. Sie werden ja selbst älter und wollen es auch. Das Alte abzukürzen oder abzuschaffen: Das ist nicht nur moralisch, sondern auch aus Eigennutz undenkbar. Ausdünnen kann man aber am anderen Ende des Lebens. Und |71| so geschieht es. Es werden weniger Kinder geboren. Von den drei Lasten, die das individuelle Leben zu tragen hat, befreit es sich am leichtesten und gleichsam wie von selbst, indem es auf Nachkommen verzichtet. Keine Kinder zu bekommen, bedeutet auch für moderne Menschen Verzicht und seelische Probleme. Es ist aber auch eine materielle und sozialpolitische Problemlösung. Wenn sie nur noch wenig eigene Kinder zu versorgen hat, verschafft sich die Hochleistungsgesellschaft Luft und Leistungsraum, in dem sie die ohnehin schon hohen beruflichen, familialen, politischen, humanitären Ansprüche an Frauen und Männer noch steigern kann.
    Eine kurzsichtige Problemlösung, mag man sagen. Zieht sich das System sozialer Sicherheit dadurch nicht auf lange Sicht den Boden unter den eigenen Füßen weg? Können Gesellschaften tatsächlich ihre soziale Sicherheit gewährleisten, ohne eine eigene Nachkommenschaft großzuziehen?
    Systeme sozialer Sicherheit – eine Selbstregulierung
    Was wir heute als System oder Systeme sozialer Sicherheit bezeichnen, ist eine evolutionäre Errungenschaft jüngeren Datums. Wie die moderne Wirtschaft und die moderne Familie ist sie aus der Teilung der Aufgaben hervorgegangen. In der Sippe oder Großfamilie oder dem »ganzen Haus« früherer Zeiten waren die Aufgaben noch kaum getrennt und unterscheidbar: Da gab es Wirtschaften als Haushalten und Produzieren, Aufzucht und Belehrung der Kinder, Versorgung der Alten und Kranken, politische und rechtliche Entscheidungen – alles in einem Topf.
    Erst im Laufe der Zeit bekamen die einzelnen Aufgaben eigene Orte und Namen auch außerhalb des Hauses. Die Wirtschaft wanderte in den Handwerks-, Handels- und Industriebetrieb aus; das soziale Sicherheitsdenken schuf sich als eigene Organisationsform die Versicherung. Ein Teil des Wirtschaftens und des Sichabsicherns |72| blieb allerdings in dem kleiner gewordenen Haushalt und in der Familie. Konsumiert, hausgehalten, gepflegt, versorgt und umsorgt wird hier immer noch. Die besondere Art von sozialer Sicherung, bei der die Menschen sich, wie in der Kinder- und Krankenpflege, sehr nahekommen und Hand anlegen, wird nur zögernd in kommerzielle Betriebe wie Pflegedienste ausgelagert oder von dort eingekauft. Persönliche Dienstleistungen werden zum großen Teil als Liebesdienste in Verwandtschafts- und Freundschaftsnetzen wahrgenommen.
    Die Aufgaben der finanziellen Absicherung wurden aber in eigenständige große, haushaltsübergreifende Organisationen verlagert. So konnten Risiken – schwere Krankheit, langes Alter – abgesichert werden, die die Finanz- und Personenkraft des einzelnen Haushalts überfordert hätten. Einen entscheidenden Schub bekamen die Organisationen sozialer Sicherung Ende des 19. Jahrhunderts, als sich der Staat ihrer annahm. Möglichst alle Staatsbürger sollten gegen möglichst alle Notfälle

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