Weniger sind mehr
Eigenproduktion. Manchmal zieht es die jungen Alten als »Ärzte ohne Grenzen«, Ingenieure oder Managementberater bis nach China. Hauptsächlich aber fließen die wohlstandssteigernden Leistungsströme innerhalb derselben Familie von den jungen Alten zu ihren schon erwachsenen Kindern – die Großmutter kümmert sich um die Enkelkinder und erleichtert damit der Tochter oder Schwiegertochter die Berufstätigkeit – oder in die andere Richtung, zwischen den jungen Alten und ihren ganz alten Eltern.
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|99| Kapitel 4
Auslaufmodell Familie?
Die Vorstellung, dass der Geburtenrückgang die Familie schwächt, ja sie gar dem Untergang weiht, hat unterschiedliche Wurzeln. Die eine entspringt der biologistischen und quantitativen Prägung unseres Denkens. Wo viele Lebewesen sind und sich vermehren, dort vermuten wir Erfolg und die Stärkung ihrer Art oder der von ihnen getragenen Institutionen. Wo Lebewesen weniger werden, erwarten wir Schwächung und Misserfolg.
Dieser »Darwinismus« ist der Vorstellungswelt von Menschen tief eingegraben. Er ist sozialen Ursprungs und war längst vorhanden, bevor Darwin ihn evolutionstheoretisch auf den Begriff brachte. Dass große und wachsende Familien stärker und besser seien als kleine und schrumpfende, ist sozusagen ein sozialdarwinistischer Urinstinkt, der scheinbar keiner weiteren Begründung bedarf. Die Bestandserhaltung einer Art oder einer Institution wird unwillkürlich an der Zahl ihrer Mitglieder gemessen.
Aus diesem Grund ist die Zahl von 2,1 Kindern pro Frau oder Paar in der gegenwärtigen Diskussion um den Geburtenrückgang zu einem Richtwert geworden. Werde der Wert erreicht, so heißt es, bliebe nicht nur die Bevölkerung einer ganzen Gesellschaft, sondern auch die Familie stabil. Eine biologische Größe bekommt magischen Charakter. Sie wird zum Symbol der Bestandserhaltung. Haben Familien nur ein Kind oder gar keines, wittern wir Gefahren: die Vergrößerung familialer Risiken, die Schwächung familialer Gemeinschaftlichkeit, schließlich ein Aussterben der Familie selbst. Als statistisches Fanal des Unheils gelten die (wie |100| gezeigt unkorrekten) 40 Prozent der Akademikerinnen, die angeblich heute in Deutschland kinderlos bleiben. Eine Zahl, die in keiner einschlägigen Diskussion fehlen darf. Sie scheint persönliches und kollektives Unglück an sich auszudrücken.
Fast automatisch schlussfolgern wir: Nicht nur die kinderlosen Frauen werden ohne Familie sterben – ihre Familien sterben mit ihnen. Wenn es keine Kinder gibt, existieren auch keine Familien mehr. Sie hören einfach auf zu bestehen. Und am ehesten und häufigsten enden ausgerechnet die Familien im Nichts, die durch Bildung, Beruf und sozialen Status der Frauen die besten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Nachwuchs böten! Der Fall der Geburtenrate reißt dort, wo er den Nullpunkt erreicht, ganze Familien mit sich, und auch wenn wir es nicht öffentlich auszusprechen wagen, so denken wir es doch: Es sind sogar die Familien der Bildungselite, der gesellschaftlichen Hoffnungsträger! Haben Familien nur ein Kind, verschiebt sich das Risiko allenfalls um ein oder zwei Generationen. Hier geht dem Ende der Familie ihr Schrumpfen voraus. Das Band, an dem sie sich in die Zukunft hangelt, wird immer dünner und droht zu zerreißen, wenn dem Einzelkind etwas zustößt oder es selbst kein Kind mehr bekommt.
Die Logik, nach der der Geburtenrückgang den Fluss des Lebens durch die Generationenfolge der Familien hindurch allmählich versiegen lässt, scheint unumstößlich. Aber es scheint nur so, denn die Logik der Demografie ist keine Sozio-Logik. Die Sozio-Logik folgt anderen Regeln, unter ihnen das Gesetz der Erhaltung. Selbsterhaltung der Familie trotz Verkleinerung durch Scheidung und Geburtenrückgang bis zum Nullpunkt: Das ist die Geschichte, die in diesem Kapitel erzählt wird.
Wie alle sozialen Systeme ist auch die Familie kein starres Gebilde. Die Mechanismen der Selbsterhaltung wirken nicht darauf hin, dass sie so bleibt, wie sie war. Im Gegenteil: Selbsterhaltung eines Systems bedeutet immer auch, dass es sich verwandelt. Es ändert Aspekte, Strukturen, Teile, Ausdrucksformen, Gedanken |101| – um im innersten Kern seines Selbst identisch zu bleiben, ja um dieses Selbst noch schärfer zu profilieren und zu steigern.
Verwandlung als Bewahrung, Gewinnung von Identität: Das bedeutet nicht nur ein Ändern und Neugliedern im Innern, sondern auch ein Ausgliedern (und,
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