Weniger sind mehr
wie sich später zeigen wird, ein Eingliedern).
Der Niedergang der Familie?
Andere Sozialsysteme haben der Familie wichtige Funktionen, etwa das Wirtschaften und die soziale Sicherung, abgenommen. Was sie von der Familie nachfragen und brauchen, sind nicht Kinder, sondern intensive Arbeitskraft der jungen Frauen und Männer als produktive Wertschöpfer und als Beitragszahler. Unter diesen Umständen wird es für Familien immer schwerer, auch noch Nachwuchs zu liefern. Nicht genug damit, dass die Leitwerte von Außen – höchste Produktivität und Vorsorgeleistungen für alle Lebenslagen – Kräfte binden und sie aus der Familie herausziehen. Selbst der ureigenste Leitwert der Familie, die Liebe, arbeitet auf Verkleinerung der Familie hin! Was liegt näher, als den Niedergang der Familie zu konstatieren und, je nach gestalterischem Temperament, zu resignieren oder zum Gegensteuern aufzurufen?
Meine Frage und Haltung dazu sind anders. Ich frage, ob die erörterten und viele andere wohlbekannte Entwicklungen tatsächlich einen Niedergang anzeigen und nicht womöglich etwas ganz anderes. Und meine Haltung ist die des Vertrauens in die Abwehr- und Selbststeuerungskräfte, wenn man will: in die Heilungskräfte der Familie. Zwar halten sich – und das nicht erst seit heute – die Analytiker, Kritiker, Fürsprecher und Förderer für klüger als die Familie selbst und wollen ihr den rechten Weg weisen. Die Familie als soziales System aber ist intelligenter und bestandskräftiger als wir alle zusammen. Wie lange gibt es jeden von uns? Und wie |102| lange gibt es die Familie? Na also. Prüfen wir der Reihe nach, wie es um den Niedergang der Familie steht und was sie selbst dagegen tut.
Mit »Niedergang der Familie« kann manches gemeint sein: der Zusammenbruch von Reputation, Macht und Leistung; Verlust von Funktionen; Verkleinerung, insbesondere durch Geburtenrückgang; damit zusammenhängend weiteres Funktionsversagen; und schließlich, am Ende aller Schrumpfung, das Aussterben.
Familien in der Dekadenz
Dass hochangesehene und einflussreiche Familien ihre gesellschaftliche Stellung und Wertschätzung verlieren, ist ein beliebtes Thema der Literatur und eine gesellschaftliche Realität. Thomas Manns
Buddenbrooks
stehen dafür und die Familie Mann selbst, aus der in der dritten Generation nach dem literarisch-bildungbürgerlichen Zauberer kein prominentes Glanzlicht mehr scheint.
Die Gründe für den Statusverlust berühmter Familien sind vielfältig. Es kann ein geschäftliches Scheitern vorliegen, ein Ungenügen angesichts der Leistungsdynamik der modernen Welt, wie in vielen Unternehmerfamilien nachgezeichnet. Es kann in Krankheit begründet sein. Es kann mit politischer Konkurrenz, mit Machtkämpfen und Meuchelmord zu tun haben wie bei den Kennedys und vielen Herrscherdynastien älterer Zeit.
In Zeiten, die für Dekadenz-Beschwörungen anfällig sind, vermutet man hinter dem Macht- und Reputationsverfall einer Familie meist eine innere Erschlaffung, eine biogenetische, seelische, soziale Aufweichung. Es hat offenbar etwas Verführerisches, sich den Aufstieg und Zerfall von Familien nach dem Bild des individuellen Werdens und Sterbens vorzustellen.
Dabei lässt sich der Sachverhalt auch prosaisch-schlicht sehen: Liegt eine ungewöhnliche Häufung von Talenten und Leistungen in einer Familiengeneration vor, mag diese sich vielleicht noch |103| einmal steigern, lässt sich aber unmöglich auf außergewöhnlicher Höhe halten. Zwangsläufig sinken in den folgenden Generationen die Leistungen einer Familie wieder in den Bereich des Durchschnittlichen und Unauffälligen hinab, ohne dass damit ein geheimnisvolles inneres Siechtum, eine Dekadenz oder gar Gesetzmäßigkeit gegeben wäre. Oft erscheinen die nachfolgenden Generationen nur im Vergleich zu einer oder zwei herausragenden Vorgängern als schwächlich, sind es aber nicht im Vergleich zu anderen, »normalen« Familien.
Natürlich können auch Pest und Cholera, Kriege und innere Zerwürfnisse die kommenden Generationen schwächen und Unfruchtbarkeit sie dezimieren. Mit dem säkularen Fall der Geburtenrate hat der Zerfall einzelner Familien aber nichts zu tun. Er betrifft gerade große Familien in Zeiten, in denen große Familien üblich sind. Der Abstiegsbewegung einer Familie entspricht der Aufstieg von anderen. Was für die einzelne Familie als Niedergang oder Dekadenz interpretiert werden mag, zeugt von Vitalität für »die Familie« als kollektive
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