Weniger sind mehr
Erscheinung. Denn so wie das gesellschaftliche System der Wirtschaft sich aus vielen Unternehmen und Haushalten zusammensetzt, so besteht auch die Familie als gesellschaftliches System aus einer Vielzahl der Einzelfamilien. Wenn man eine biologistische Analogie nicht scheut, kann man sagen, dass eine bestimmte Familie hohen Ansehens das Feld für andere räumt, so wie im Organismus Zellen ständig durch andere ersetzt werden.
Diese Art von Niedergang jeder Familie ist vorprogrammiert, auch dann, wenn es ihr gelingt, über viele Generationen hinweg einen hohen sozialen Status zu halten und praktisch eine Dynastie zu bilden. Irgendwann – meist schon in der zweiten oder dritten Generation – werden es die Nachgeborenen nicht mehr vermögen, den Ruhm ihrer Vorfahren aus eigener Kraft zu erneuern oder gar zu mehren. Nicht der Rückgang der Geburten ist daran schuld. Im Gegenteil, die politischen ebenso wie die ökonomischen und künstlerischen Dynastien, die sich auf einen berühmten Namen |104| zurückführen – die Bismarcks, Hohenzollerns, Krupps, Thyssens, Manns, Weizsäckers –, haben in der Regel eine weit verzweigte Nachkommenschaft. Sie sterben nicht aus, sondern treten einfach in einen meist unausgesprochenen Ruhmwettbewerb mit anderen, aufsteigenden Familien ein.
Der Verlust von Funktionen
Aus der Familie ausgelagert werden zunächst nicht so sehr Personen, sondern Aufgaben oder Funktionen. Der Familienclan in Stammesgesellschaften und das frühmittelalterliche »Ganze Haus« (oikos) 1 waren Familientypen, die im doppelten Sinne als groß bezeichnet werden können: Sie umfassten zahlreiche Personen, neben Angeheirateten und Angenommenen auch Gesinde; und sie übernahmen viele, tendenziell alle überlebenswichtigen Aufgaben. Sie stellten damit nicht nur den Kern der Gesellschaft, sondern je eigene Gesellschaften im Kleinen dar. Über Jahrhunderte hinweg vollzog sich dann, in Europa beginnend, ein Prozess, den Soziologen als funktionale Differenzierung bezeichnen: Nach und nach gliederten sich Aufgaben zugleich auf und aus der großen Familie aus. Die Produktion von Gütern, der Schutz vor Gewalt, die Vorsorge für Alter und Krankheit, die Anbetung Gottes, die Vermittlung des Wissens und der Werte, die Erforschung des Unbekannten bildeten je eigene Lebenssphären der Wirtschaft, der Politik, der sozialen Sicherungssysteme, der Religion, der Bildung und der Wissenschaft. Aus Sicht der Familie handelt es sich um einen Verlust von Funktionen. Und der Prozess führt bis in die Gegenwart und darüber hinaus. Auch die Aufgaben, die der Familie heute noch undelegierbar scheinen – das gemeinsame Haushalten, die exklusive Sexualität, Geburt und Aufziehen von Kindern –, können ihr verloren gehen und weitergegeben werden. Dem fortschreitenden Rückgang der Aufträge entspricht ein Schwinden von Mitgliedern.
|105| Doch der Verlust von Funktionen hat mit der Größe der Familie und der Geburtenzahl nichts zu tun. Das Wort Verlust enthält eine Entwertung, die dem Vorgang nicht angemessen ist. Es handelt sich nämlich um eine Auslagerung von Aufgaben und Leistungen. Die Familien, die dies konkret betreiben, versprechen sich davon einen Vorteil. Und im Ergebnis zeigt sich: Der Verlust ist ein Gewinn – nicht nur für die Mitglieder einer einzelnen Familie, sondern für viele Familien zugleich. Es handelt sich um einen Fortschritt gesellschaftlicher Arbeitsteilung; um eine Sammlung und Neuverteilung der Kräfte.
Konkret: Wenn jemand die Familie verlässt, um in der Manufaktur, in der Fabrik, in der Bank, im Krankenhaus oder in der Universität zu arbeiten, so entwickelt er dort, mit den Angehörigen anderer Familien zusammentreffend, eine Produktivität, die er im Rahmen der eigenen Familie nie erreichen könnte. Nicht anders ist es mit dem Zugewinn an Bildung in Schulen, Internaten, Universitäten; da kann eine einzelne Familie noch so sehr beweisen, dass sie ihre Kinder zuhause ebenso gut oder besser unterrichten kann – in der Summe ist dies der Familie nicht möglich und bleibt deshalb ein sektiererisches Unterfangen. Ebenso die Vorsorge für Alter und Krankheit: Eine einzelne Familie kann dies niemals (abgesehen von einigen äußert wohlhabenden Ausnahmen) so gut leisten wie eine überfamiliale versicherte Gemeinschaft.
Auch die Pflege von Kranken, Wöchnerinnen, Alten: Sie mag in der einzelnen Familie warmherziger und persönlicher sein, erreicht aber nie den Grad von Kompetenz und Risikobegrenzung im
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