Weniger sind mehr
berufstätig werden und in die Sicherungssysteme einzahlen. Kinder können das erst in 20 oder 30 Jahren. So lange liegen nicht nur sie selbst dem Sozial- und Bildungsstaat auf der Tasche. Sie halten auch ihre Mütter davon ab, als Berufstätige voll zu verdienen und in die Sozialkassen einzuzahlen. Kinder werden damit zu Konkurrenten nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für den Sozialstaat. Sie wetteifern mit beiden um die Arbeitskraft und die sozialen Beiträge ihrer Mütter. Denn wie wir schon gesehen haben: Gerade im deutschsprachigen Raum (mehr als in anderen Industrienationen) ziehen sich Frauen, die Mütter werden, aus dem Beruf ganz, teilzeitig oder zeitweilig zurück. Kinder sind der sozialen Sicherungssysteme Feind. Sie schmälern deren Einnahmen. Und sie erheischen Auszahlungen – und konkurrieren insofern auch mit Rentnern und anderen bedürftigen Gruppierungen.
Auch junge und qualifizierte Einwanderer rechnen sich für Wirtschaft und Sozialstaat in der Regel besser als hierzulande |95| geborene Kinder. Letztere müssen hier erzogen, großgezogen, gepflegt, gebildet werden. Für Erstere geschieht das alles in ihrer Herkunftsgesellschaft. Als Berufstätige können sie direkt in die sozialen Sicherungssysteme einzahlen. Hierzulande entfallen die Kosten für Mütter, die keine Mütter werden; für Kinder, die nicht geboren werden; für Jugendliche, die nicht gebildet und erzogen werden müssen.
Zugegeben, es ist nicht ganz einfach, junge Arbeitskräfte aus aller Herren Länder hier einzugliedern. Und auch dies ist mit Kosten verbunden. Aber den Integrationskosten stehen für die aufnehmende Gesellschaft auch Migrationsvorteile gegenüber; denn die Wanderer, die die Schwelle der Gewohnheiten überspringen und in die Fremde gehen, sind in der Regel besonders motiviert, ehrgeizig, beweglich, vorgebildet – kurz: besonders tüchtige Arbeitskräfte. Die Wirtschaft stellt, dies abwägend, Kosten-Nutzen-Kalküle an. Für die Systeme sozialer Sicherung ist dies weniger dringend, denn sie sind an den neuen Mitgliedern weniger als integrierte Kulturwesen denn als Einzahler interessiert.
Für die neu berufstätigen Frauen ebenso wie für die Neueinwanderer gilt: Ihr Reservoir ist nicht unbeschränkt. Es ist aber längerfristig viel größer, als die kurzfristigen Veränderungen in der Berufstätigkeit und in den Wanderungsbewegungen vermuten lassen. Denn hier handelt es sich um Prozesse nicht nur nationaler, sondern internationaler Arbeitsteilung, die erst am Anfang stehen. Sie sind bisher weitgehend mit Tabus belegt. Wir möchten gar nicht darüber nachdenken, dass es innerhalb Deutschlands eine Arbeitsteilung zwischen berufstätigen Frauen ohne Kinder und kinderreichen Müttern ohne Beruf geben könnte.
Ebenso wenig stellen wir uns dem Gedanken, dass die Arbeitsteilung zwischen reproduktiven und produktiven Kulturen zunehmen könnte: In Ägypten, Indien, Vietnam, Brasilien werden die Kinder geboren und großgezogen, von denen ein Teil später in die deutschen sozialen Sicherungssysteme einzahlt. Die deutschen Frauen, die hochproduktiv, aber nicht reproduktiv tätig sind, zahlen in die |96| gleichen Sicherungssysteme ein. Arbeitsteilungen dieser Art sind weniger ungerecht und mechanistisch, als es aus deutscher Perspektive zunächst erscheinen mag. Was die Migranten aus unserer Sicht ihren Heimatländern zunächst an Fähigkeiten entziehen, liefern sie materiell und in Form von sozialen Beziehungen und kulturellen Einflüssen mehr als ausgleichend zurück. Und was den deutschen Frauen an Mutterschaft entgeht, wird mehr als aufgewogen durch andere Entfaltungsmöglichkeiten. Nicht zu vergessen bei alledem: Die Selbststeuerung der sozialen Systeme vollzieht sich überall durch freie Entscheidungen der Individuen und ihrer Angehörigen. Zu diesen Freiheiten gehört es, dass die Individuen auch wieder anders entscheiden und dadurch Trends – wie Fall der Geburtenrate, Berufstätigkeit, Migration – wieder umkehren.
Bleiben wir aber noch einen Augenblick bei dem in Deutschland und anderen Industriestaaten vorherrschenden Trend: dem Fall der Reproduktionsrate bei gleichzeitig steigender Produktivität der Arbeit. Eine intensivere, gebildetere, mit mehr Wissen und Vorwissen angereicherte, besser organisierte, gesündere, mit mehr Kapital und Maschinen ausgestattete, mobilere, motiviertere, zufriedenere, kurz: eine produktivere und leistungsfähigere Arbeit kann mehr Wohlstand für alle schaffen, auch wenn
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