Weniger sind mehr
und der soziale Frieden. Und nicht zuletzt die wachsenden Systeme der sozialen Sicherung. Sie müssen ja das Netz spannen für diejenigen, die aus den »Olympiamannschaften« der Hochleistungsunternehmen herausfallen.
Gäbe es die sozialen Sicherungssysteme als Auffangbecken nicht, könnten die Unternehmenswirtschaft und ihr Leitwert der Produktivität nicht mit gesellschaftlicher Anerkennung rechnen. Wo, wie in den USA, die sozialen Sicherungssysteme traditionell schwach ausgebildet sind und vom Staat wenig gestützt werden, müssen die Unternehmen die soziale Sicherung gleichsam selbst übernehmen. Sie tun dies zwar auch durch eigene Pensionskassen, hauptsächlich aber durch ein liberales System des »Hire-andfire«. Wer arbeitslos wird, kann, unabhängiger von Alter und Qualifikation als in Europa, eher damit rechnen, andernorts eine zweite Chance zu bekommen. Er wird schneller eingestellt, aber auch schneller wieder entlassen. Das drückt zwar die Löhne, versichert ihm aber weitere Chancen, eingestellt zu werden und seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Die niedrigen Löhne und die niedrige Qualifikation sind aber auch die Kehrseite einer – im Vergleich zu Europa und Japan – niedrigen Produktivität. Zum Typus der amerikanischen Systemlösung der Probleme sozialer Sicherheit gehört allerdings auch ein Wertesystem, in dem die |93| Freiheit und die Chancen, eine Arbeit zu finden – und auch wieder zu verlieren –, höher eingeschätzt werden als die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die in Europa den Vorrang hat.
Im europäischen Denken gehören Produktivitätssteigerung, Sicherheitsdenken und gesetzliche Sicherungssysteme zusammen. Das Vorhandensein der Sicherungssysteme gibt den Unternehmen gleichsam ein gutes Gewissen, um über steigende Produktivität Arbeitsplätze zu vernichten. Produktivitätssteigerung beruht auf und wird abgesichert durch Systeme sozialer Sicherung. Andererseits sind Produktivitätssteigerungen auch das Reservoir, aus dem letztlich alle materielle soziale Sicherung der nichtarbeitenden Bevölkerung stammt. Dieselbe Produktivitätssteigerung der Arbeit, die so viele Leute aus dem Arbeitsprozess ausstößt oder heraushält, weil sie bei den hohen Arbeitsqualitätsansprüchen nicht mithalten können, führt dazu, dass wenige, aber besonders qualifizierte Leute ein hohes Leistungsergebnis erzielen. Aus den Erträgen können sie dann auch höhere Beiträge für die sozialen Sicherungssysteme abzweigen und eine größere Zahl von Menschen mitversorgen, die noch nicht oder nicht mehr berufstätig sind. Eine immer größere nichtaktive Bevölkerung kann von einer immer kleineren aktiven Bevölkerung in dem Maße mitversorgt werden, in dem die Produktivität steigt. Nicht die große Zahl der Arbeitenden und des Arbeitsnachwuchses, sondern ihre Produktivität und Solidarität mit der nichtarbeitenden Bevölkerung sind die beiden Pfeiler, auf denen der Sozialstaat ruht.
Es sind genau diese beiden Pfeiler, die das System soziale Sicherung von Kindern unabhängig machen, ja die den Fall der Geburtenrate sogar beschleunigen. Seit es die Systeme sozialer Sicherheit gibt, muss man keine eigene Familie und Kinder haben, um im Notfall und im Alter versorgt zu sein. Das erledigt die breitere Solidargemeinschaft der Versicherten.
Aber ist es nicht besonders kurzsichtig, gar verwerflich, sich am kollektiven Gut der Alterssicherung schadlos zu halten, ohne sich an deren Nachwuchssicherung zu beteiligen, die Kosten Kind |94| von anderen tragen zu lassen? Macht es nicht das Trittbrettfahren zum Programm? Und sind Systeme sozialer Sicherung nicht besonders fahrlässig konstruiert, wenn sie zur Selbstausbeutung einladen?
Die Menschen, die danach handeln, scheinen ähnlich intelligent wie diejenigen, die glauben, dass der Strom aus der Steckdose kommt. Und er kommt aus der Steckdose! So wenig wir dafür ein Elektrizitätswerk im eigenen Haus brauchen, so wenig benötigen wir für die Systeme sozialer Sicherung eigene Kinder. Die Sicherungssysteme haben zumindest drei Möglichkeiten, sich auch ohne eigene Kinder zu stabilisieren: durch Frauen, durch Fremde und durch eine Art künstliche Kinder in Form der Produktivitätssteigerung.
Im Vergleich zu hier geborenen Kindern verfügen erwachsene Frauen und Fremde als neue Beitragszahler für die sozialen Sicherungssysteme über einen unschätzbaren Vorteil: Sie haben ihre Ausbildung – hier oder anderswo – bereits abgeschlossen und können sofort
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