Weniger sind mehr
Notfall, den das Krankenhaus, die Spezialklinik oder das Pflegeheim bieten kann. Die ausgelagerten Funktionen werden im breiteren Rahmen von professionalisierten Spezialsystemen besser erfüllt als in der Familie. Am besten aber geling dies im Zusammenwirken von Professionalität und Familialität, und das hat sich in den modernen Gesellschaften eingespielt. Hier belagern nicht mehr, wie in den armen Ländern der Welt, ganze Familien die Krankenzimmer, um für den Kranken zu kochen, |106| zu waschen, Tag und Nacht Wache zu halten. Im modernen Krankenhaus ergänzen die Angehörigen die professionelle Pflege, indem sie besondere Leckereien, Lektüre oder frische Wäsche bringen. Da es aber, wegen der Teilung der Funktionen, nicht nötig ist, dass die Familie die Körperpflege des Kranken übernimmt, kann sie ihm schlicht die Hand halten – und ihm dabei umso näher kommen. Die Auslagerung beziehungsweise der Verlust von Funktionen ist also für die Familie auch in dieser Hinsicht ein Gewinn: Sie kann, gemäß ihrem Leitwert, ihre verbleibende Kernfunktion der liebevollen Zuwendung umso ungestörter und intensiver erfüllen.
Dieser ganze Prozess zieht, ausgehend von einzelnen Pionieren, immer mehr Familien in sich hinein. Darwinistisch kann man es auch so ausdrücken: Die Familien, die in den Prozess einstimmen, haben einen Selektions- oder evolutionären Vorteil. Deshalb folgen ihm so viele Familien. Deshalb hat er sich zur dominanten Lebensform moderner Gesellschaften entwickelt. Deshalb kann man verallgemeinernd sagen, dass nicht mehr Familie x oder Familie y, sondern »die« Familie durch die Auslagerung von Funktionen und die Konzentration auf den Leitwert Liebe gekennzeichnet ist.
Die Verkleinerung der Familie und der Geburtenrückgang hängen mit diesen Entwicklungen zunächst nicht zusammen. Sie gelten für große wie für kleine Familien. Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass Familien, die nur noch ein Minimum an Personen umfassen, auf die Ausgliederung von Funktionen quasi angewiesen sind. Gleichwohl ist es erstaunlich, wie viele Zusatzfunktionen auch die heute vorherrschende Klein- und Kleinstfamilie tatsächlich noch übernimmt, und dies auch, wenn alle erwachsenen Mitglieder berufstätig sind. Rund 90 Prozent aller pflegebedürftigen Personen werden zuhause gepflegt. Immer noch wird vorwiegend zuhause gekocht und gegessen; wo dies während der Arbeitswoche nicht möglich ist, nehmen gemeinsame Mahlzeiten am Wochenende und an Feiertagen rituellen Charakter an. Und auch wenn die Familienmitglieder außerhäusliche Berufe |107| haben, wird in deutschen Häusern, Gärten und Wohnungen erstaunlich viel handwerklich selbst gerichtet. 2
Die große multifunktionale Familie – das mittelalterliche »Ganze Haus« – und die zahlenstarke Reputationsfamilie – die Manns – hatten, wenn sie mit sich selbst beschäftigt waren, eine umfangreiche Aufgabenliste: Sie kümmerten sich um das gesellschaftliche Ansehen, Statuserhalt, politischen Einfluss, ökonomischen Erfolg, vorteilhafte Ehearrangements, innere Eintracht, Kontinuität in der Zeit ... Die Liebe kam erst an letzter Stelle. Wenn sie überhaupt eine Rolle spielte, dann wurde sie, wie im Falle Thomas Manns, aus der Familie ausgegliedert in ein Reich der Fantasie und (literarischer oder institutionalisierter) Abenteuer. Wenn es sie tatsächlich gab: Denn der Reputations- und Funktionsverlust, weit entfernt davon, die Familie im Inneren zu erschüttern, lässt die Liebe als Kernfunktion und Leitwert der Familie erst ans Licht treten.
Was die Familie gewinnt: Liebe
Reduziert sich die Familie durch ihren Funktionsverlust auf eine Restkategorie? Löst sie sich als Institution gar vollständig auf? Oder gibt es etwas Bleibendes, etwas sich neu Bildendes, in dem die Familie ihre Aufgabe und ihren Halt findet? Das ihr Überleben sichert?
Diese Kernfunktion existiert bereits. Es ist eine Art Leitstrahl, entstanden ohne Plan, ohne Politik, ohne Philosophie, ohne Religion: Er gehört ins Reich der Werte, schwer fassbar und doch unverwüstlich. Wie der Leitwert der Wirtschaft die Effizienz ist und der Leitwert der Politik die Macht, so besteht der Leitwert der modernen Familie in der Liebe. Liebe und nichts sonst. Nicht Kranken- und Altenpflege, nicht die Versicherung für schlechte Zeiten, das gemeinsame Haushalten, die Produktion und auch nicht die Reproduktion, weder als Sex noch als Zeugung oder als |108| Fortpflanzung. Zwar werden alle diese Aufgaben in
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