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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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und logisch. Durch Nachfragen können wir es erfahren: Zum einen handelt es sich um drei leibliche Kinder; zum anderen um die fünf Kinder seiner Schwester, für die der Schwester-Bruder in traditionalen Gesellschaften oft eine wichtigere Rolle spielt als der leibliche Vater. Alle acht Kinder sind vertraut und verbunden. Alle gehören sie zu einer Familie. In jedem Falle aber entsteht die besondere Steigerung des Zusammenhaltes nach dem elementaren Sozialgesetz: geteilte Liebe ist doppelte und dreifache, ist gestärkte Liebe. Das geliebte Wesen meines geliebten Wesens ist mein geliebtes Wesen.
    Mit Blick in frühere Zeiten des Ganzen Hauses – aber auch durchaus zurückreichend zur vorzeitlichen Urhorde – können wir davon ausgehen, dass sich Gemeinschaftsgefühle mittlerer Intensität auf eine Gruppengröße von 10 bis 30 Personen eingepegelt haben. Aus dieser empirischen Ahnung ebenso wie aus der soziologischen Überlegung von der gegenseitigen Bestärkung geteilter Wir-Gefühle innerhalb derselben Familie ergibt sich die geläufige Vorstellung, dass die große Familie liebevoller ist, mehr Halt gibt und mehr Macht entfaltet als die kleinere.
    Was liegt näher, als aus der Nostalgie und aus der Soziologie |115| heraus für größere Familien zu plädieren? Allerdings, der Zusammenhang zwischen Zahl der Familienmitglieder und Stärke des Gemeinschaftsgefühls ist so einfach nicht. Die Vergrößerung der Familie, wie jeder Gruppe, hat ihren Preis. Mit ihr wachsen nicht nur Liebe, Halt und Macht, sondern auch Gegenbewegungen: Es bilden sich im Innern vorübergehende oder feste Gefühls- und Interessenkoalitionen, Parteiungen, Entzweiungen, Zerwürfnisse, Eifersüchte, offene Streitereien und verdeckte Konflikte. Sie können den Zusammenhalt und die Macht einer großen Familie schwächen, ja zerstören. 7
    Dass die große Familie liebevoller und stärker sei als die kleine, ist eine Legende, eine Romantisierung alter und anderer Zeiten. Je größer die Familie, desto höher das Risiko, dass sie sich von innen heraus schwächt. Es wird zum Beispiel immer schwieriger, ein Erbe zu verteilen. Das Risiko steigt noch einmal, wenn die Gefahr von außen fehlt oder sich abschwächt. Drohen keine konkurrierenden Familien und keine Feinde und erscheint der Staat nicht als Gegner, sondern als Freund und Förderer der Familie, entfällt der äußere Druck, der eine Familie über innere Streitpunkte hinweg zusammenschweißt. Die moderne Familie, in immer freundlicherem Umfeld, braucht, um sich zu behaupten, weder einig noch groß zu sein, erst recht nicht mächtig im politischen Sinne.
    Es ist aber nicht nur das Risiko innerer Konflikte, das die Familie von innen heraus schwächt. Auch ohne Streit und Konflikt gibt es eine Entkräftung von Gemeinschaft durch Vergrößerung. Sie geht unweigerlich einher mit dem eben beschriebenen Prozess der Stärkung durch Vergrößerung, sie ist die immer mitlaufende Gegenbewegung zu diesem Prozess. Denn je mehr Gefühle sich durch hinzukommende und verkettende Beziehungen überlagern und stärken, desto weniger können die einzelnen Beziehungen hingebungsvoll und intensiv, dazu noch, wie in der Familie normativ gefordert, gleich stark gelebt werden. Mit der Ausdehnung der Gefühle auf immer mehr Menschen, ob nun innerhalb der Familie, eines Unternehmens, eines Volkes oder gar der Menschheit, |116| können nicht mehr alle Beziehungen hoch gefühlsgeladen und gleichermaßen gefühlvoll gelebt werden. Es stellen sich vielmehr spontan unterschiedlich starke Gefühlsbindungen ein mit einer Präferenz für nächste Verwandte oder für einen Lieblingssohn, von Thomas Mann in seinem biblischen Roman
Joseph und seine
Brüder
beschrieben.
    Man kann von einem Gesetz der Ausdünnung der Liebe durch ihre Ausdehnung sprechen. Das Christentum hat dieses elementare Sozialgesetz mit seiner Forderung nach Nächsten- und allgemeiner Menschenliebe auszuhebeln versucht. Vergeblich, wie Sigmund Freud (in
Das Unbehagen in der Kultur
) mit beißendem Spott konstatiert und Helmuth Plessner 1924 in seiner berühmten Streitschrift
Grenzen der Gemeinschaft
analysiert hat:
    Lieben kann man nur Individuelles, das in konkreter Gestalt dasteht, und erst durch das Individuelle hindurch das Allgemeine ... Den gewöhnlichen Menschen, wenn er überhaupt bei Vaterlandsliebe, Menschenliebe, Nächstenliebe etwas Echtes empfindet, nicht nur Traditionelles dabei im Kopf hat, erfüllt ... [dabei] nicht volle, bindende, steigernde Liebe

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