Weniger sind mehr
in die Höhe. Es ist verblüffend, wie oft dieses Modell von denen für die Vergangenheit aufgestellt wird, die es in der Gegenwart heftig bekämpfen. Nur ein Beispiel: Die meisten Soziologen, aber auch ein Historiker wie Edward Shorter (›Die Geburt der modernen Familie‹) stimmen darin überein, dass sich Gefühle zwischen Eltern und Kindern erst in den letzten dreihundert Jahren entwickelt haben. Die Logik dieser Zeitgenossen: Kinder waren nur Arbeitskräfte, und vor allem entwickelt man keine Gefühle zu Wesen, von denen man weiß, dass sie höchstwahrscheinlich nicht lange leben werden. Stellt man diese These vom Kopf auf die Füße, dann bedeutet das: Unsere Zuneigung ist abhängig vom Fortschritt der Medizin. Ich liebe einen Menschen nur, wenn ich vorher weiß, dass er gesund ist. Was für ein Materialismus der Gefühle! Zudem ein Blick in die Vergangenheit, der nur die Maßstäbe der Gegenwart gelten lässt und deshalb unfähig ist, die Menschen einer anderen Zeit zu verstehen.« 6
Es ist die Liebe, in deren Namen hier die Empörung erfolgt. Darin kommt die normative Überhöhung der Liebe zum Ausdruck. Wie kann man nur etwas qualitativ so Hochwertiges und Einzigartiges durch schnöde Zahlen erklären wollen! Je tiefer moralische und normative Gefühle kulturell in uns verwurzelt sind, desto mehr pochen sie auf ihren absoluten Wert und desto mehr sperren sie sich dagegen, von sozialen Konstellationen, etwa ausgedrückt in schlichten Zahlenrelationen, abhängig zu sein.
|113| Aber sie sind es. Gefühle sind abhängig von der Zahl der Menschen, von denen sie erwidert und mit denen sie geteilt werden, sie sind auch abhängig von der Länge der Zeit, die die jeweilige Beziehung dauert. Sie sind ursprünglich nicht Zustände im Menschen, sondern Beziehungen zwischen Menschen. Je dauerhafter Menschen über die Prägephase zwischen Eltern und Kindern oder über sexuelle Anziehung hinaus zusammen sind, desto wahrscheinlicher kann sich zwischen ihnen das Gefühl emphatischer Innerlichkeit, Ausschließlichkeit, Einzigartigkeit, Unendlichkeit, kurz: gesteigerter Verbindlichkeit entwickeln, das wir Liebe nennen. Familiarität als gegenseitiges Vertrautsein und die daraus wachsende Liebe haben also durchaus mit der Verlängerung der Zusammenlebenszeit, also auch mit der individuellen Lebenszeit zu tun. Auch wenn Liebe als familiales Gefühl auf die Dauer eine eigene innere Gegenbewegung hervorbringt – als Ablösung der Kinder von den Eltern und, zwischen den Geschlechtern, als eine Art Abnutzung –, bleibt Familiarität auch in der Ambivalenz eine starke Gefühlrealität.
Geteiltes Leid, halbes Leid; geteilte Freude, doppelte Freude. Gefühle steigern sich in der Übereinstimmung. Sie stiften so, als geteilte Gefühle, Trost und Halt, wenn die Zeiten schlecht sind; und, wenn die Dinge gut stehen, schenken sie die Antriebskraft, die aus der Freude kommt.
Wie erklärt sich die Steigerung der Gefühle in Gemeinschaft? Da Gefühle in den Beziehungen zwischen Menschen liegen, bildet in einer Familie, wie in anderen Gruppen auch, jede Beziehung ein Wir-Gefühl heraus (durchaus nicht nur positiv, sondern auch als Mischung aus Anziehung und Abstoßung, als Spannung aus Liebe und Hass). Aber das Familien-Gefühl ist weit mehr als die Summe der paarweisen Wir-Gefühle. In ihm verbinden sich nicht nur die Verbundenheiten zwischen Frau und Mann, Mutter und Vater, Mutter und Kind A, Mutter und Kind B et cetera, sondern auch die gemeinsame Verbundenheit von Vater und Mutter mit einem Kind, mit zwei Kindern, mit drei Kindern; es gibt auch Gefühlsübereinstimmung |114| aller Kinder gegen die Eltern oder gegen ein Elternteil und den Zusammenhalt beider Eltern und eines Kindes gegen die anderen Kinder oder aller Familienmitglieder gegen ein Mitglied; schließlich gibt es das Wir-Gefühl der ganzen Familie gegen den Rest der Welt.
Auch im Kleinen besteht die Familie aus kaum noch überschaubaren Verstrebungen von Beziehungen oder Gefühlen. Mit jedem neuen Mitglied wird die Liebes- und Konfliktarchitektur der Familie komplexer und weniger einsehbar. Das gilt für die eigene Familie, aber natürlich auch für die der anderen. Oft wissen wir nicht genau, wer dazugehört. Ja, die Mitglieder selbst scheinen mal einen engeren, mal einen weiteren Familienbegriff zu haben. So mag ein Mann aus Tansania mal von seinen drei, im nächsten Augenblick von seinen acht Kindern sprechen. Und beides ist, unserer Verblüffung zum Trotz, richtig
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