Weniger sind mehr
der Familie noch immer erbracht; ja sie scheinen sogar zum Gründungsvertrag der Familie zu gehören. Aber die Familie besteht und erhält sich auch ohne sie, ohne Sex, ohne Kinder, ohne gemeinsamen Haushalt und ohne die Pflege der Alten und Kranken. Für Letztere gibt es Kliniken und Krankenhäuser; die Familienmitglieder wohnen nicht selten an unterschiedlichen Orten und essen für sich alleine oder in Kantinen und Restaurants; Sex findet oft außer Haus oder, bei älteren Ehepaaren, gar nicht mehr statt. Und doch, die Familie bleibt.
Was sie im Innersten zusammenhält, ist vielleicht nicht mehr als »nur« eine Idee oder ein Ideal; man mag es auch »nur« als Macht der Gewohnheit, schnöden Kompromiss, praktische Nützlichkeitserwägungen ansehen. Auf alles das trifft merkwürdigerweise, in emphatischer Überhöhung wie in praktischer Erniedrigung, der Begriff der Liebe zu. Im Terminus »Liebe«, der so vieles umgreift und doch mit einem einzigen Wort auskommt, laufen die von vielen geteilten moralischen Vorstellungen einer festen und verlässlichen Bindung zusammen. »Nur« eine Vorstellung also, eine Art Schimäre, eine Illusion?
In gewisser Weise haben alle sozialen Bindungen und Institutionen ihr Pendant in einer Vorstellungs- und Erwartungswelt. Und doch existieren sie nicht nur durch sie. Sie haben vielmehr ihren sozialen Urgrund in elementaren Bindungen, die bereits existierten, bevor die Menschen sie mit ihren kulturell geprägten Begriffen belegten und in Vorstellungen wandelten.
So auch die Liebe. Das Wort ist einfach. Die Sache ist komplex. Sie ist zunächst die Bindung zwischen Eltern und Kindern. Sie muss verlässlich sein, weil sonst die Neugeborenen nicht überleben würden. Zum andern handelt es sich um eine Bindung zwischen zwei erwachsenen Menschen. Ihre Verlässlichkeit ist problematisch. Latent enthält sie Unstetes, nämlich Leidenschaft und Gewalt. Ohne diese Elemente würde es nicht zur Zeugung kommen. Zeugung impliziert ja, aus heutiger Sicht, eine unerhörte |109| Annäherung. Eine Verletzung der leiblichen und privaten Sphäre des anderen, deren Charakter als Gewaltakt nur durch eine innige Übereinstimmung der beiden aufgehoben und in Liebe verwandelt werden kann.
Auf den beiden sozialen Elementarbindungen – vertikal zwischen den Generationen, horizontal zwischen den Geschlechtern – baut alles auf, was wir heute unter Liebe und Familie verstehen. In einer eher konservativen Sicht müssen beide Bindungen zusammenkommen und institutionalisiert sein – als legitime Eltern-Kind-Beziehung und als Ehe –, damit von Familie gesprochen werden kann. Fehlen Kinder oder fehlt ein Ehepartner, dann wird, nicht ohne Herabsetzung, von unvollständiger Familie gesprochen.
Vorstellungen von Familie sind immer normativer, moralischer Art. Sie lassen sich aber nicht auf einen bestimmten Typus oder eine bestimmte Größe von Familie festlegen. Seit sich die Liebe zum Leitwert der Familie herausbildet – kein Kind soll ohne Liebe großgezogen, keine Ehe ohne Liebe geschlossen werden –, ist Familie dort, wo Liebe ist. Also auch in der Mutter-Kind- oder Vater-Kind-Bindung ohne Ehe; ebenso in der liebevollen Partnerbindung ohne Kinder. Familie ist da, wo Liebe ist: als verlässliche, innige, ausschließliche und sozial anerkannte Bindung. Über den Drang nach sozialer Anerkennung beziehungsweise Normalität kommt allerdings doch ein Idealtypus der Familie – mit Kindern und Eheschließung – wieder zur Geltung: Indem sie Kinder haben und verheiratet sein wollen, streben Homosexuelle in diese Normalität – und sind doch am weitesten davon entfernt.
Nur 13 Prozent der vom Allensbacher Institut für Demoskopie 2004 befragten Deutschen zwischen 18 und 44 Jahren verstehen auch gleichgeschlechtliche feste Lebensgemeinschaften als Familie. Aber kaum mehr, nämlich nur 16 Prozent, dehnen den Familienbegriff auf unverheiratet zusammenlebende Paare ohne Kinder aus. Auch durch Heirat wird das kinderlose Paar nur für 23 Prozent zu einer Familie. Erst Kinder begründen eine Familie: mit alleinerziehendem Elternteil für 41 Prozent der Befragten, mit |110| unverheiratet zusammenlebenden Eltern für 62 Prozent, mit verheirateten Eltern für 91 Prozent. Die Zahlen zeigen, dass auch im modernen Verständnis die Liebe zwischen Generationen (als Herkunftsbindung) stärker familienbildend wahrgenommen wird denn die Liebe des Paares (als Wahlbindung). Aber erst die Kombination von Elternschaft und Ehe kann damit
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