Weniger sind mehr
rechnen, von (fast) allen als Familie anerkannt zu werden.
Erst heute, da die Familie in den Augen vieler von Funktionsverlust, Mitgliederschwund und Unvollständigkeit bedroht ist, wird ihr bleibendes soziales Grundgerüst in den generativen und geschlechtlichen Bindungen erkennbar. Sogleich löst sich die Familie von diesem Grundgerüst und den daran gebundenen Personen ebenso wie von der Vielzahl ihrer Funktionen und wird ganz auf eine einzige Sache zugeschnitten und von ihr gehalten: die Liebe. Sie ersetzt sozusagen die verschiedenen Funktionen, indem sie das, was von ihnen bleibt, zu einer einzigen zuspitzt. Sie ersetzt auch die Personen und die ihnen zugeschriebenen Rollen. Denn alles können Familien ausgleichen: einen andersgeschlechtlichen Partner durch einen gleichgeschlechtlichen; ein selbst gezeugtes Kind durch ein angenommenes; getötete Eltern, die, zum Beispiel nach den Massakern in Ruanda und Burundi, von ihren eigenen Kindern und Nichten und Neffen ersetzt werden, die sogenannten Kinderfamilien; Väter, deren Rolle nach Trennung, Scheidung oder Kriegstod von ihren Frauen mit übernommen wird ...
Alles können Familien ersetzen: Personen, Rollen, Funktionen, nur eines nicht, die Liebe. Familiale Liebe kann nicht durch ein Geldgeschäft abgelöst werden, ebenso wenig durch religiöse Begeisterung, durch wirtschaftliche Leistung, durch politische Macht oder wissenschaftlichen Forscherdrang. Wer heute einen Partner heiraten würde, weil dieser reich, mächtig, wissenschaftlich innovativ oder religiös inbrünstig ist, »und hätte der Liebe nicht«, dem würde gerade in modernen Gesellschaften die geballte Verachtung seiner Mitmenschen ins Gesicht schlagen.
Natürlich wissen wir, dass im komplexen Leben die Familie |111| nicht nur aus Liebe, sondern auch aus Interessen und Intrigen, Vermögen und Vererbung, Machtstreben und Entzweiung besteht. Und wir wissen, dass wir nicht nur aus Liebe lieben, sondern auch aus Schutzbedürfnis, Wohlleben, Not, Bewunderung von Erfolg, Machtteilhaben und Ähnlichem. Zumindest mischen sich solche Werte dem Leitwert der Liebe in der Regel bei. Die Liebe ganz rein zu sehen, wäre Romantik. Und doch ist Romantisierung zulässig und hat einen realen Kern: die Liebesbindung, die bleibt, wenn alle anderen Bindungsgründe wegfallen. In der Vorstellung einer unverbrüchlichen Liebe wird diese Idee immer wieder aufgerufen. Und sie ist zu einer kollektiven Vorstellung, zu einer allgemein anerkannten Norm geworden, gegen die niemand ungestraft verstoßen darf. Die Liebe zum eigenen Kind und die Liebesehe, aus der das Kind der Liebe hervorgehen soll – das sind die soziomoralischen Fundamente der modernen Familie, die sich im Leitwert der Liebe verdichten.
Man kann auch sagen, dass es die Familie selbst ist, die diesen Leitwert hervorbringt und ihn beständig formt. In bestimmten Zeiten und soziohistorischen Konstellationen scheint sie dabei aber besondere Fortschritte zu erzielen, zumindest rückblickend, im Auge des forschenden Betrachters. So hat der Sozialhistoriker Edward Shorter für die europäische Familie eine »Erwärmung des emotionalen Binnenklimas« konstatiert, die vor rund 300 Jahren einsetzte. 3 Gemeint ist eine besondere Gefühlshaftigkeit und Aufwertung der Beziehung zwischen den Ehegatten wie zwischen Eltern und Kindern. Sie geht einher mit einer deutlicheren Grenzziehung zwischen dem Innenleben der Familie und ihrer Außenwelt; diese kann nun weniger als früher einsehen und sozial kontrollieren, was in der Familie geschieht.
Die Familie wird kleiner
Entscheidend für die innerfamiliäre Gefühlssteigerung oder Liebe ist aber darüber hinaus, dass die Familien kleiner werden und dass |112| ihre Mitglieder länger zusammenleben. Auf diese quantitativen Veränderungen hinzuweisen, um damit Gefühlssteigerungen, um die Familienliebe zu erklären, wird, zumindest in Deutschland, als Ärgernis empfunden und abgelehnt. So hat Barbara Beyus in ihrer Geschichte der deutschen Familie 4 sich über den Historiker Edward Shorter und dessen Buch
Die Geburt der modernen Familie
5 empört, weil dieser die Qualität der Liebe auf die Quantitäten der beteiligten Personen und ihre Lebensdauer zurückführe:
»Weil es um Menschen geht, müssen wir uns auch endlich frei machen von der Vorstellung, Geschichte – in ein Koordinatensystem gebannt – sei eine aufsteigende Linie von einfachen primitiven Formen zu komplizierten Systemen; Aufstieg des Geistes von den Niederungen
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