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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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Nachbarschaftsanhörungen, Rechtsstreits, Rede- und Antwortforderungen in öffentlichen Diskussionen und Kommunalparlamenten zwingt sie den islamischen Gemeinden Organisations- und Rechtsformen, Verfahren und Diskursregeln, Wertbekenntnisse und Willfährigkeiten, kurz das ganze Arsenal der westlichen politischen Kultur auf. Was den Moscheebauern und islamischen Lehrern in deutschen Schulen dadurch abverlangt wird, ist mehr als eine Anpassung an Formen und Formalitäten. Es ist Integration durch Akkulturation selbst. Beide Seiten gewinnen dabei, beide müssen Federn lassen. Aus dem übergreifendsten und politisch ausgreifenden Islam des Orients wird durch die Integration in die europäische Gesellschaft ein eingehegtgezähmter religiöser Privatbereich; in der Soziologensprache: ein gesellschaftliches Subsystem unter anderen.
    Akkulturation durch Protest und Gewalt
    Akkulturation braucht Zeit. Damit ein Mensch, in das Machtfeld einer Kultur einwandernd, zum Mitträger dieser Kultur werden |186| kann, reicht in der Regel seine individuelle Lebenszeit nicht aus. Erst nach mehreren Generationen ist zu erwarten, dass die Unterschiede zwischen aufnehmender und mitgebrachter Kultur sich, hauptsächlich auf Kosten der Letzteren, abschleifen. Je mehr Zeit sie hat, desto stetiger und nachhaltiger kann Akkulturation ihr Werk vollenden.
    In diesen unseren Vorstellungen von Akkulturation wirken wiederum – unbewusst – die elementaren Gesetze vom Konformitätsdruck der Mehrheit mit ihrer Bevorzugung fürs Eigene. Ferner wirkt darin das Gesetz von der »Macht der Dauer«: Je länger sich eine soziale Lebensform bereits behauptet, desto länger wird sie auch weiterhin bestehen. Oder wenn an einem Ort eine vorhandene und eine neu hinzukommende Lebensform aufeinandertreffen, wird sich die ältere durchsetzen.
    Der Einprägsamkeit halber habe ich dieses Gesetz vor elf Jahren »Methusalems Gesetz« genannt. 5 Es scheint zunächst nur von Zeit und Macht zu handeln. Aber es hat, wie alle sozialen Gesetze, moralischen Charakter. Seine Moral ist uns, ohne weitere Rechtfertigung und Begründung, tief vertraut und einsichtig. Es ist die Moral des Schlangestehens: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst; das Vorhandene ist das Bevorrechtete. Wer einer vorhandenen Kultur ihren Platz streitig macht, wie die Europäer den eingeborenen Kulturen Amerikas und Australiens, handelt unrecht. So empfinden es die moralischen Gefühle aller Kulturen, nicht nur der Betroffenen und Betrachtenden, sondern auch der Täter.
    Das moderne Staats- und Völkerrecht baut auf dem »Gesetz der Dauer« ebenso wie jede Kleinfamilie. Niemand hat das Recht, von außen die jeweiligen Grenzen zu überschreiten und vorhandene Lebensformen durch andere zu ersetzen. Es sei denn, er beruft sich auf ältere und verletzte Vorrechte. Dies ist, wie am Beispiel Israels und Palästinas zu sehen, hochproblematisch und konflikthaltig. Gleichwohl bemühen sich alle Seiten um historischen Vorrang. Sie setzen damit wie selbstverständlich voraus, dass das |187| »Gesetz der Dauer« von allen, auch von unbeteiligten Dritten, gekannt und anerkannt wird.
    Zurück zur Frage, ob in einem kinderarmen Europa Einwanderer und deren Nachkommen zu Trägern westlicher Kultur werden können. Hier machen sich, besonders in Deutschland, Enttäuschung und Ernüchterung breit. Gerade diejenigen, die schon länger hier sind, in der zweiten und dritten Generation, scheinen fremder, ja feindlicher zu werden: Verglichen mit ihren Eltern und mit deutschen Gleichaltrigen haben sie weniger Erfolg im Beruf. Sie wenden sich zurück zu ihrer religiös und traditionell geprägten Herkunftskultur und demonstrieren dies durch Symbole des Bartes, des Kopftuchs, des Fastens und Ähnlichem. Sie neigen, wie empirisch belegt ist, im Vergleich zu deutschen Gleichaltrigen mehr zur Gewalt – in der Schule, auf den Straßen, in der Familie, im Protest gegen den eigenen Staat und gegen die internationale Politik. 6
    Was sind die Gründe für diese Gegenbewegungen, die einer kontinuierlichen Akkulturation Hohn zu sprechen scheinen? Bedeuten sie ein Scheitern von Akkulturation? Gilt das »Gesetz der Dauer« in Akkulturationsprozessen nicht? Oder gilt es so sehr, dass die Prägekraft der Herkunftskulturen dauerhafter ist als die Einwirkung der Aufnahmekultur, selbst wenn diese sich über mehrere Generationen erstreckt?
    Versuchen wir den Gründen für die aus Sicht der Aufnahmekultur in jedem Falle unerwünschten und befremdlichen

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