Weniger sind mehr
Freizeit und Sport; dann natürlich in der Aufgabe, einen angesehenen und passenden Beruf zu suchen und sich zu bewähren; daraufhin erst in dem Bestreben, den Richtigen oder die Richtige |217| zu finden und eine harmonische Partnerschaft zu bilden; schließlich – man ist versucht zu sagen, ganz zuletzt – in der Geburt eigener Kinder.
Die Individualität der jungen Erwachsenen macht gleichsam einen eigenen Bildungsweg durch. Sie wird regelrecht ausgebildet. Der Reihe nach, wenn auch mit gewissen Überschneidungen, durchläuft die junge Frau ebenso wie der junge Mann die verschiedenen Lebenssphären beziehungsweise funktionalen Subsysteme. Jede stellt eine Beziehungswelt für sich dar. Und jede dieser Beziehungswelten drückt denjenigen, die sich darauf einlassen, ihren Stempel auf. Man hat zum Beispiel eine Lehre gemacht, das Fachabitur angeschlossen, geht auf eine technische Hochschule, lernt eine Freundin oder einen Freund kennen, mit dem man eine Weile zusammenzieht ... und aus der Summe oder Kombination solcher prägenden sozialen Teilhaben formt sich dann das Individuum X oder Y, das in all seinen Facetten und Anschlüssen keinem anderen gleicht.
Natürlich könnte der Weg durch die verschiedenen Lebenssphären und das zeitweilige oder dauerhafte Verweilen darin auch ganz anders aussehen. Ein junges Paar könnte zum Beispiel zunächst ein oder zwei Kinder bekommen, dann eine Zeit lang berufstätig sein, später seine Ausbildung abschließen, arbeitslos werden, sich einem anderen Beruf zuwenden und so fort. Einer solchen Lebensbahn haftet allerdings, wenn wir von unserer Gegenwartsgesellschaft ausgehen, etwas merkwürdig Außenseiterisches, ja Misslingendes an. Man weiß von Mittelschichtvätern, die ihrer 16-jährigen schwangeren Tochter mit Enterbung drohen und sie zur Abtreibung drängen. Man liest von einem 40-jährigen Politologen und Romanisten, übervorsichtig, Skeptiker: »Und dann, wenn das Kind da ist? Wie sollten wir das finanziell schaffen? Ich habe gerade so viele Aufträge, dass ich selbst klarkomme. Ich kann meine Bedürfnisse weit zurückschrauben, aber wenn ich eine Familie ernähren müsste, dann ginge das nicht.« 9 Aus diesen und unzähligen anderen Beispielen geht hervor: Ist die |218| Individualitätsbildung nicht in der »richtigen« Reihenfolge erfolgt und nicht vom Erfolg gekrönt, steht sie dem Kinderkriegen im Wege.
Was »die richtige Reihenfolge« des Zugangs zu den verschiedenen Lebenssphären und was »der Erfolg« darin ist, sollen und müssen die Individuen selbst festlegen. So will es das vorherrschende individualistische Weltbild. Auch die 20- und 30-Jährigen selbst glauben in der Regel, in völliger Entscheidungsfreiheit zu leben und von familialen, religiösen, politischen und moralischen Autoritäten nicht bestimmt zu sein. Erstaunlich ist nur, wie sehr sie ihre Entscheidungen an Leitbildern ausrichten, die fast ausnahmslos von allen geteilt werden: Männer
und
Frauen sollen die bestmögliche, das heißt eine lange Ausbildung haben; beide sollen einen Beruf, und zwar einen modernen Beruf, haben; sie sollen Kinder erst bekommen, wenn beide oder zumindest einer sich beruflich etabliert haben; sie sollen das Ob und Wann des Kinderkriegens (wie auch alle anderen familialen Angelegenheiten) partnerschaftlich und im Konsens entscheiden.
Diese moralischen Vorstellungen erscheinen zeitgenössischen jungen Leuten als ihre ureigenen, individuellen. Jede Umfrage zeigt aber: Es handelt sich um eine kollektive, von der großen Mehrheit geteilte Moral. Sie hat eine normative Verbindlichkeit, der sich heute niemand mehr entziehen kann, es sei denn um den Preis, sich selbst unmöglich zu machen. Könnte eine junge Frau allen Ernstes sagen: »Ich will keine Ausbildung, ich will keinen Beruf, ich will vier Kinder«? Ihre Eltern, sogar die Großeltern, ihre Lehrer, ihre Freundinnen und auch ihr Freund würden ihr widersprechen. Ihr Freund und ihr Mann – darin personifiziert sich die stärkste normative Verbindlichkeit, die die scheinbar sich individualisierende Gesellschaft aufzubieten hat. Es ist dies die Norm: Paare müssen in existenziellen Dingen einer Meinung sein. Kinder müssen aus einem Konsens hervorgehen.
Eine Zeit lang, vor etwa 30 Jahren, glaubte man, dass die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, ganz auf die emanzipierte Frau |219| übergehen würde. Natürlich gibt es auch heute die stolz-eigenständige ebenso wie die verlassene Frau, die ihr Kind allein oder mit
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