Weniger sind mehr
auf materielle und soziale Zuwendung eher besser da als ihre Vorgänger.
Allerdings tragen sie auch erhöhte Beziehungsrisiken durch Trennungen und Scheidungen. Was diese Risiken angeht, sind sie den Entscheidungen ihrer Eltern fast ohnmächtig ausgeliefert. Wenn Individualität daran wächst, dass man das eigene Leben durch vermehrte Wahlmöglichkeiten und freie Entscheidungen selbst gestalten kann, dann findet die Entfaltung kindlicher und jugendlicher Individualität in den Scheidungsentscheidungen der Eltern ihre empfindlichste Brechung, ja ihren Widerspruch. Besonders die Eltern mittlerer und oberer Schichten mögen die |215| Selbstentfaltung der Kinder auf ihre Fahnen geschrieben haben. In Trennung und Scheidung aber handeln sie den tiefsten Wünschen ihrer Kinder, die sich mit beiden Eltern liebevoll identifizieren wollen, zuwider.
Damit wird nicht behauptet, dass irreparable Schäden entstehen. Auch Kinder verfügen bereits über eine Art individueller Selbststeuerung zur Schadensbegrenzung. In der Scheidung erfahren sie aber auch schmerzlich, dass alle Liebe, deren die Eltern sie versichern, und alle Selbstbestimmung, die ihnen angesonnen wird, ihnen von denselben Eltern, sei es ungewollt, auch wieder beschnitten werden. Die Steigerung der Individualität als Wahlfreiheit findet ihre Grenzen in der Wahlfreiheit der anderen – und muss dann individuell neu austariert werden, auf niedrigerem, enttäuschungsreicherem Niveau.
In die Phase der verlängerten Adoleszenz und des Erwachsenenlebens eintretend, warten auf die jungen Erwachsenen weitere Enttäuschungen: Verlassenwerden in der Liebe, schlechte Schulnoten, verpatzte Examen, vergebliche Bewerbungen ... Individualität schützt nicht vor Misserfolg. Aber geknickte Individualität kann sich wieder aufrichten. Sie kann sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. In der modernen Welt der jungen Erwachsenen steigern sich auch die Chancen der Individualität durch eine Vielzahl von persönlichen Entscheidungen. Hier beginnt nun eine Strecke im Lebenslauf, in der eine durch immer mehr Entscheidungsmöglichkeiten sich selbst steuernde Individualität direkt in den Fall der Geburtenrate oder in eine sogenannte »Reproduktionsfalle« führt.
In kaum einer Lebensfrage scheinen sich die Menschen heute freier bestimmen zu können als in der Frage, ob, wann und wie viele Kinder sie bekommen sollen. Künstliche Befruchtung und die Fortschritte der Verhütungstechnologie haben diese Freiräume erweitert, insbesondere für die einzelne Frau. Der Sozialstaat sorgt für Absicherung in Notfällen, und normative Zwänge für oder gegen Heirat, für oder gegen Kinderkriegen lassen sich kaum |216| noch ausmachen. Wenn trotzdem weniger Kinder geboren werden, liegt es nahe, den Grund dazu in den erweiterten Optionsräumen selbst zu suchen.
Nach den modernen Entscheidungstheorien ist eine Entscheidung dann rational, wenn sie zu einer Maximierung der Nutzenerwartung führt. Der Zwang zur Entscheidung hat somit einen Zwang zum wirtschaftlichen Nutzenkalkül im Gefolge. Der Entscheidungsträger ist durch den bloßen Umstand, entscheiden zu müssen, zum Egoismus gezwungen – im Gegensatz zu einem rein gewohnheitsmäßigen oder triebhaften Paarungs- und Zeugungsverhalten. Wenn Handlung und Handlungsfolgen nicht mehr Gott, dem Schicksal, der Natur, den Sitten zugeschrieben werden, sondern allein dem selbstverantwortlichen Individuum, kann es »die Handlungsfolgen gar nicht mehr anders denken als von seinen eigenen Bedürfnissen her«. 6
Der Philosoph Dieter Thomä weist allerdings zu Recht darauf hin, dass es die Wirklichkeit verengt, wenn man Kinder als Lieferanten von Nutzeffekten begreift, da es doch »immer schon um ein Zusammenleben, eine Lebensform geht, in der Eltern und Kinder zusammengehören«. 7 Nichtsdestoweniger: »Menschen, die Eltern werden, entscheiden über eine Zukunft, die sie nicht kennen, entscheiden als Menschen, die noch nicht Eltern sind. Das heißt auch: Es ist naheliegend, dass sie ›von sich aus‹ entscheiden, dass sie auf Gründe verfallen, die mit ihnen selbst eher zu tun haben als mit der Lebensform, die auf sie zu kommt.« 8
Die Lebensformen, die auf die jungen Leute in ihrem dritten und vierten Jahrzehnt zukommen, sind zunächst aber alles andere als die selbst gegründete Familie mit Kindern. Die Individualität der modernen 20- und 30-Jährigen beweist sich in erster Linie in ihrer Stellung im Bildungssystem; dann in den Erlebniswelten von
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