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Wenn alle anderen schlafen

Wenn alle anderen schlafen

Titel: Wenn alle anderen schlafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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verlor ich
sie aus den Augen, doch dann sprintete sie über ein kahles Geländestück zu der
Plattform am oberen Ende der Treppe, die sich die Klippen hinunterzog und unten
am Strand von Bootlegger’s Cove endete. Ihr helles Haar flatterte im Wind, als
sie sich an den Abstieg machte. Wo zum Teufel wollte sie hin? Es war Flut; das
mußte sie doch sehen. Sie würde allenfalls bis zur Hälfte kommen, ehe sie
wieder umkehren mußte — oder aufs Meer hinausgerissen wurde.
    Zwei Möglichkeiten: Sie
gedachte, auf der Treppe auszuharren, bis ich mich doch an das Haus
heranschlich, und mich dann zu überrumpeln. Schließlich konnte sie nicht
wissen, daß ich dank der Nachtsichtbrille jede ihrer Bewegungen verfolgen
konnte. Oder sie hoffte, daß ich sie die Treppe hatte hinuntersteigen sehen und
ihr zur Hilfe eilen würde, weil ich um ihr Leben fürchtete. Letzteres paßte
eher in das Bild, das ich inzwischen von ihr hatte; sie war eine bizarre
emotionale Bindung zu mir eingegangen, und wenn ich ihr zur Hilfe käme, wäre
das der Beweis dafür, daß von meiner Seite ebenfalls eine solche Bindung
bestand.
    Was aber nicht der Fall war.
    Zwanzig Minuten.
Fünfundzwanzig.
    Und dann tauchte sie wieder
auf, rannte geduckt zum Häuschen zurück. Sie wollte wieder ins Warme, sich
sammeln, einen neuen Plan aushecken. Dahinterkommen, was ich als nächstes tun
würde.
    Was werde ich tun?
    Nichts. Sie auf- und abtigern
und wild spekulieren lassen, ihre Nervosität anheizen. Ich würde sie genauso
verrückt machen wie sie mich.
    Mitternacht. Ein Uhr. Zwei.
    Kein weiterer Anruf von
D’Silva. Kein Anruf von Renshaw oder Hy. Die erwartete Front war eingefallen,
und der Nebel löste sich auf. Der Wind war allerdings immer noch stark. Nicht weiter
erstaunlich — an dieser wilden Nordküste war das Wetter kaum vorhersagbar.
Rechnete man fest mit einem schönen, klaren Tag, war im nächsten Moment alles
grau verhangen. Oder umgekehrt.
    Halb drei. Drei. Halb vier.
    Vielleicht war sie ja
eingeschlafen. Streß führte leicht zu totaler Erschöpfung, wenn mich das auch
bei D’Silva eher gewundert hätte. Mich erschöpfte er jedenfalls nicht; er
machte mich höchstens noch wacher, intensivierte das Gefühl, lebendig zu sein.
Und diese Art Streß — das Balancieren am Rand der Gefahr — machte mich higher
als alles andere. Als Hy mich das erste Mal so erlebt hatte, hatte er mir einen
heimlichen Todeswunsch unterstellt. Inzwischen wußte er, daß es eine Sucht war.
Eine, die wir beide teilten.
    Vier Uhr. Gott, ich hatte einen
Mordshunger!
    Ich kramte in meiner Tasche,
förderte einen jener Müsliriegel zutage, die die Hersteller permanent in
Supermärkten verteilen, in der Hoffnung, neue Kunden zu gewinnen. Als ich
hineinbiß, befand ich, daß ich in diese Firma nicht investieren würde. Ich aß
den Riegel trotzdem auf und gierte dabei nach einem Speck-Cheeseburger.
    Um fünf rief ich, nur für den
unwahrscheinlichen Fall, daß Gage Renshaw das mit der Handynummer vergessen
hatte, bei mir zu Hause an, um meinen Anrufbeantworter abzuhören: Mick, der
fragte, ob ich ihn an diesem Wochenende brauchte, und noch jemand, der gleich
wieder aufgelegt hatte. Kein Wunder, wenn etwas Wichtiges drauf gewesen war,
hatte es D’Silva bestimmt fernabgehört und gelöscht. Ich steckte das Handy
wieder in meine Tasche, überzeugt, daß es nie wieder klingeln würde.
    Die Nachtsichtbrille lastete
schwer auf meinem Nasenrücken. Ich nahm sie ab und massierte die Druckstelle.
Noch immer lag Dunkel über Land und Meer; um diese Jahreszeit ging die Sonne
hier nicht vor sieben Uhr auf. Nach einer kurzen Erholungspause setzte ich das
Sichtgerät wieder auf und spähte zum Häuschen hinüber. Sie mußte wach sein,
denn sie hatte Feuer gemacht, und Rauch kam aus dem —
    Dach, nicht aus dem
Schornstein! Ein dicker, öliger Strom, der rasch zu wolkigen Schwaden quoll.
    »O nein, kein Feuer!«
    Doch genau das war es. Sie
hatte das einzige Mittel angewandt, das mich sofort aus meiner Deckung holen
würde.
     
    Ich riß mir das sperrige
Sichtgerät herunter, packte es auf den hinteren Sitz, schmiß die Tasche
hinterher und schnappte mir die Pistole vom Instrumentenbrett. Im nächsten
Moment war ich draußen und rannte geduckt auf den schützenden Zypressenhain zu.
Ich zwängte mich zwischen den Bäumen hindurch zur Seeseite des Häuschens. Dort
war der Rauch dichter, ölbefrachtet, und als ich den Rand des Hains erreicht
hatte, sah ich orangeroten Flammenschein.
    Ich blieb

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