Wenn auch nur fuer einen Tag
Bruder ist acht Jahre älter und hat für mich gesorgt. Von ihm habe ich auch die Begeisterung für Italien. Es war immer sein Traum, dort zu leben und sich etwas aufzubauen.«
Ich schiele zu Jana hinüber. Ihre Stimme hat plötzlich etwas von ihrer Unbeschwertheit verloren und ihr Blick wirkt ernst. Am liebsten würde ich sie trösten und ihr sagen, dass ich verstehe, was sie bedrückt; dass ich diese Streitereien und ständigen Vorwürfe meiner Eltern auch satthabe, dass ich es hasse, wenn meine Mutter so tut, als wäre alles in Ordnung, und ich unter dieser Lüge nur noch mehr leide.
Ich will ihr sagen: »He, sei froh, wenigstens ziehen du und dein Bruder am selben Strang! Meiner hingegen kneift einfach die Augen zu und spielt die ganze Scharade mit, weil er die Wahrheit nicht ertragen kann.« Aber das sind Punkte, die nicht mehr zählen. Sie gehören zu Matteos Leben und nicht zu Lukas’.
»Meine Eltern sind ums Leben gekommen«, höre ich mich stattdessen sagen. »Bei einem Autounfall. Ich war vierzehn, als es passiert ist.« Die Sätze, die Beck mir eingeimpft hat, kommen mir ganz von allein über die Lippen. Ich bin selbst verblüfft darüber, aber ich habe einfach das Bedürfnis, Jana auch irgendetwas von mir anzuvertrauen und ihr damit zu zeigen, dass wahrscheinlich jedes Leben Schattenseiten birgt – auch wenn dieses hier bloß erfunden ist.
Jana lächelt mir mitfühlend über den Spiegel hinweg zu. »Das tut mir leid«, sagt sie leise. »War bestimmt nicht leicht. Hattest du denn jemanden, der sich um dich gekümmert hat?«
Ich zögere kurz, doch dann nicke ich. Jetzt, wo ich mit Lukas’ Lebensgeschichte begonnen habe, kann ich auch genauso gut damit weitermachen. »Leider habe ich keine Geschwister«, erzähle ich ihr, »aber eine Tante, die in der französischen Schweiz lebt, hat mich aufgenommen. Und vor ein paar Monaten bin ich dann zu meinem Onkel Fred nach Hamburg gezogen. Er ist echt … ein krasser Typ. Ab und zu arbeitet er als Security Guard für irgendwelche Stars, aber eigentlich ist er leidenschaftlicher Taxifahrer.« Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht noch weiter rumzulabern. Kein normaler Mensch packt beim ersten Gespräch solche nichtssagenden Details aus. Aber Jana sieht mich so gespannt über den Spiegel hinweg an, als erwarte sie noch mehr.
Ich räuspere mich. »Also … wie ist das? Haben dein Bruder und du immer noch so ein enges Verhältnis?«, frage ich, um das Gespräch lieber wieder auf Jana zu lenken.
Sie scheint über meine Frage nachdenken zu müssen, denn ihre Stirn kräuselt sich und ein paarmal öffnet und schließt sie den Mund, ohne etwas zu sagen. Doch dann nickt sie. »Ja. Ja, wir haben sogar ein sehr gutes Verhältnis.« Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und lässt ihre Augen plötzlich wieder strahlen.
Tatsächlich, denke ich fasziniert: wie zwei leuchtende Sterne in der Farbe des Meeres. Ich muss über mich selbst grinsen. Ich bin eben doch ein waschechter Italiener. Aber ob schnulzig oder nicht, einen treffenderen Vergleich gibt es einfach nicht für die Augen dieser kleinen ragazza.
»Flo lebt seit acht Monaten in Rom«, erzählt sie weiter, »deshalb sehen wir uns nicht sehr oft. Aber nach dem vierten Semester will ich für ein halbes Jahr nachkommen. Flo organisiert mir einen Praktikumsplatz. Er kennt schon einen Haufen Leute und hat ziemlich gute Beziehungen.«
Stolz liegt in ihrer Stimme und ihr Blick verrät, dass sie ihren Bruder über alles liebt. Ich würde ihr zu gerne erzählen, dass mein älterer Bruder auch in Rom lebt, dass ich ihn ebenfalls vermisse, obwohl wir so verschieden sind und ich niemals an ihn heranreichen werde, weil er der vernünftigere von uns beiden Orsini-Brüdern ist, der strebsamere, der, der meinem Vater nie mit irgendwelchen Schlagzeilen Schande bereitet und sich kein einziges Mal gegen ihn aufgelehnt hat. Stattdessen nicke ich nur. »Ja, Rom ist toll«, murmele ich versonnen. »Ich wünschte, ich könnte auch irgendwann für längere Zeit dorthin.« Am besten für immer, ergänze ich stumm.
Jana
»Mensch, Jana, das sieht ja toll aus! Dreh dich doch mal!« Meine Cousine betrachtet meine neue Frisur von allen Seiten und kriegt sich vor Begeisterung kaum wieder ein. »Du, die fallen jetzt viel schöner und haben ein Megavolumen. Deine Friseurin hat echt was drauf, zu der gehe ich das nächste Mal auch. Wobei«, sie fährt sich mit kritischer Miene durch ihre dicken Locken, »ich brauche nun wirklich nicht noch
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