Wenn aus Verlangen Schicksal wird
darauf anzusprechen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass ihr kleines, zerbrechliches Glück nur noch an einem seidenen Faden hing, dass eine falsche Geste alles zerstören könnte.
Doch als sie Alex an ihrem dritten Abend nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus ins Bett gebracht hatten, hielt Selene die Anspannung nicht mehr aus.
Nachdem sie die Tür zum Kinderzimmer hinter sich geschlossen hatte, legte sie die Hand auf Aris’ Arm und suchte seinen Blick. Er wirkte tieftraurig, fast schon verstört. Dann schenkte er ihr ein gezwungenes Lächeln, das ihr fast das Herz brach.
„Ich möchte wieder nach Hause“, sagte sie leise.
Aris erstarrte mitten in der Bewegung und sah sie ausdruckslos an.
Zu Hause erwarteten sie Geheimniskrämerei und Komplikationen. Doch Selene war sicher, dass Aris seine Arbeit wieder aufnehmen musste. Nur würde er nie vorschlagen, dass sie abreisen sollten, solange er glaubte, dass Selene auf Kreta bleiben wollte.
Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie er die Information verarbeitete. Gleich würde er sie fragen, warum sie nicht bleiben wollte. Und sie wusste, dass all ihre Erklärungen wie schlechte Ausreden klingen würden.
Aber er fragte nicht. Mit ausdrucksloser Miene erwiderte er einfach nur: „Wie du willst.“
Noch nie hatte sie irgendetwas weniger gewollt.
Sie erklärte Aris, dass sie wünschte, ihre Zeit auf Kreta würde nie enden, dass sie zurückkehren und länger bleiben wollte.
Lächelnd hatte er ihr versichert, dass sie jederzeit zurückkehren könne. Und doch strahlte er eine seltsame Kälte aus, die Selene zutiefst verunsicherte. Es kam ihr so vor, als ob er sie aussperrte, sie nicht mehr an sich heranließ.
Verzweifelt versuchte sie, sich einzureden, dass all das vorbeigehen würde, dass es nur eine Phase war. Dass er vor einem Problem stand, das ihn zu sehr beschäftigte, um an etwas anderes zu denken. Dass er wieder ganz für sie da wäre, sobald er eine Lösung gefunden hatte.
Nur einen Tag später waren sie wieder in New York, der Stadt, in der sie ihr Leben lang gewohnt hatte. Doch nichts fühlte sich mehr vertraut an. Ihr Zuhause war jetzt bei Aris.
Zusammen fuhren sie zu ihrem Apartment. Aris, der Alex auf dem Arm trug, hielt Selene galant die Wohnungstür auf. Lächelnd sah sie zu ihm auf, um sich zu bedanken – und erstarrte, als sie die ungefilterte Aggression in seinem Blick bemerkte.
Sie fuhr herum und warf einen Blick in ihre Wohnung. Dann schrie sie leise auf.
Im Vorraum standen ihre drei Brüder. Feindselig starrten sie Aris an.
Nein. Damit hatte sie nicht gerechnet, und sie hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte. Also hatten ihre Brüder ihr Geheimnis gelüftet und waren gekommen, um … um …
Der erste Schock verflog und machte rasender Wut Platz.
Was wollten sie überhaupt hier? Und was bildeten sie sich ein, einfach in ihre Wohnung einzudringen und ihr Leben zu kontrollieren?
Doch ehe sie ein Wort sagen konnte, trat Lysandros, der Mittlere der drei, vor. Auf seinen Lippen lag ein bösartiges Lächeln. „Ah, da ist ja die glückliche Familie.“
Damon schnaubte abschätzig. „Ach, wie rührend.“
Dann wussten sie also alles. Sollten sie doch! Irgendwann hätte Selene es ihnen selbst erzählt, und daran ändern konnten sie sowieso nichts. Aris war jetzt ein fester und unverzichtbarer Bestandteil von Selenes Leben. Damit würden sie sich abfinden müssen. Vielleicht war es nur gut, dass sie gekommen waren. Jetzt konnten sie es hinter sich bringen und danach endlich ein normales Leben ohne Geheimnisse führen.
Sie suchte Aris’ Blick, wollte ihm wortlos mitteilen, dass er nicht um sein Recht, zu bleiben, kämpfen musste. Sie und Alex gehörten zu ihm, das stand nicht zur Debatte. Sie selbst war der Grund für all die Feindseligkeit, und damit war auch sie diejenige, die für Frieden sorgen musste. Sie liebte ihre Brüder, auch wenn sie sie manchmal in den Wahnsinn trieben. Und sie würde einen Weg finden, wie alle Beteiligten friedlich und freundschaftlich mit der ungewohnten Situation umgehen konnten.
Doch Aris wich ihrem Blick aus.
Als sie begriff, drohte sie den Boden unter den Füßen zu verlieren: Aris hatte ihre Brüder erwartet!
Auf der Suche nach einer Erklärung sah sie wieder ihre Brüder an. Aber auch sie ignorierten sie einfach. Sie alle konzentrierten sich ganz auf Aris, kamen langsam näher und umzingelten ihn wie ein Rudel Wölfe.
In diesem Augenblick wimmerte Alex leise auf.
Die vier Männer
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