Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
zu glauben, war wirklich äußerst viel verlangt.
Was Nikolaj anging, so hatte sie dessen lichtvollen Funken schon zu Gesicht bekommen. Doch jetzt schien es, als gäbe es nur noch Dunkelheit in ihm. Als wäre der lichte Funke gänzlich von der Dunkelheit ertränkt worden.
„Das Licht hat eine Gabe, eine Macht, die das Dunkel nie erlangen, niemals verstehen wird. Zünde eine Kerze in einem dunklen Raum an und du wirst dessen ganzen Umfang erhellen. Gib einen Hauch von Dunkelheit in einen lichtvollen Raum und er wird sich nicht auszubreiten vermögen.“
Konnte Hekate tatsächlich recht haben? Hatte sie nicht schon alles versucht, um wieder Licht in Nicks Innerstes zu bringen? Um
ihn
zurückzubringen? Was konnte sie noch mehr tun, als sie schon getan hatte? Sie hatte versucht, ihn zu finden – wiederzufinden. Ihn wieder zurückzubringen. Wenn er nicht darauf reagierte, bedeutete das nicht, dass er nicht mehr da war? Dass Hekate sich geirrt hatte? Dass das Licht doch verlöschen konnte? Verlöschen durch einen dunklen Windhauch? Was konnte sie tun, um Nick wieder zur Besinnung zu bringen? Und … wollte sie das überhaupt noch? Wollte sie noch darum kämpfen? Nachdem er ihren Vater auf dem Gewissen hatte?
„Adoptivvater“, mahnte sie sich leise.
Nein. Er war ihr Vater gewesen. Er hatte sie großgezogen. Er hatte ihr Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen. Hatte ihr gezeigt, wie man einem Igel beim Überwintern half und sein Leben rettete. Er hatte sie geliebt. Er war ihr Vater gewesen. Völlig egal, ob die DNA dies bestätigte oder nicht.
Hekate hatte leicht reden. Sie war eine Göttin. Sie steckte nicht in diesem ganzen Schlamassel, in dem sie sich aktuell befand. Sie konnte leicht sagen:
„Du stehst an dem Punkt, an dem auch Lilith einst stand. An dem Punkt, der eine Entscheidung von dir fordert: Möchtest du, dass die Geschehnisse, dass das Außen die Macht über dein Inneres, über dich, erlangt und dich in der Hand hat? Oder möchtest du selbst es sein, die über dein Inneres, über dich, verfügt?“
Die Göttin war es ja nicht, die diese Entscheidung treffen musste.
Gwen gelang es nicht zu erkennen, wie eine Entscheidung alles wieder ins Lot bringen sollte. Ebenso wenig, wie sie erkennen konnte, wie sie diese Entscheidung treffen sollte. Wie genau man das machte. „Sich entscheiden“.
Sie konnte wohl schlecht sagen: „Ich entscheide mich dafür, dass alles wieder gut ist. Dass nie etwas Schlimmes passiert ist, alle Toten wieder lebendig sind und Nick wieder Nick ist.“
Wenn es so einfach wäre, hätte sie sich direkt dafür entscheiden, dass ihre Eltern sie und Nick zu Kinderzeiten niemals voneinander getrennt hätten. Dann wäre gewiss alles ganz anders gekommen. Womöglich gäbe es dieses boshafte, bedrohliche und dunkle Netz gar nicht, das sich um ihr Leben gewunden und es darin eingeschlossen hatte.
Aber Hekate hatte mit „Entscheidung“ wohl nicht gemeint, dass sie sich Vergangenes ungeschehen wünschen sollte – oder konnte.
Die Tür ging auf und ließ sie erschrocken zusammenzucken. Zwei Frauen kamen herein. Die eine um die vier bis fünf Jahre älter als sie selbst, die andere jünger. Etwa Anfang zwanzig. Alle beide waren schlank, hatten blasse Gesichter, besaßen eine unverkennbare, wenn auch getrübte Schönheit, und vor allem ihre Augen hatten an Glanz eingebüßt.
Sollten das Sensaten sein, hatten sie scheinbar von irgendetwas, das ihnen nicht bekam, zu viel abbekommen. Oder waren es vielleicht gar keine? Konnte das möglich sein?
Misstrauisch beäugte sie die beiden. „Seid ihr … Sensaten?“
Eine der beiden, die mit dem blonden Pagenkopf, erwiderte: „Nein, sind wir nicht. Wir arbeiten hier.“
Erst jetzt kam ihr Merkas Anspielung von wegen „Kunden, Qualität und Niveau“ wieder in den Sinn. „Wo ist
hier
? Und was meint ihr mit
arbeiten
?“
„Hier im Club. Im Marofláge. Oder was glaubst du, wo du hier bist?“ Diesmal war es die andere, die mit den kupferfarbenen langen Locken, die in spöttischem Tonfall antwortete und dazu ein abschätziges Schnaufen von sich gab. So viel Elan hätte Gwen ihr gar nicht zugetraut. Der Pagenschopf warf der Rothaarigen einen leicht tadelnden Blick zu, sagte aber nichts.
„Was ist das Marofláge?“
Nun antwortete wieder die Blondine: „Das Marofláge ist eine Art … nun … es ist vergleichbar mit einem Restaurant, einem Gestüt und einem Jagdclub.“
Gwen sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
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