Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
ankommen. Sie prallte hin und her, hin und her, gegen imaginäre Wände in ihrem Inneren.
Erneut drang die Stimme ihrer Mutter aus dem Hörer: „Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. Du musst nicht … kommen, wenn du nicht kannst, wenn du arbeiten musst.“
Kummer und Scham nagten an ihr und fraßen sich durch ihre Eingeweide. „Ich
muss
nicht kommen …? Mum, ich … Natürlich komme ich. Dass ich komme, steht außer Frage. Ich … Es tut mir … Ich mache mich sofort auf den Weg.“
Die Stimme ihrer Mutter klang erleichtert. „In Ordnung. Wir sehen uns mein Schatz.“ Der vertraute Ton ihrer Mutter verstarb und wurde vom Tuten des Telefons abgelöst.
Gwen brachte das Geräusch zum Schweigen und ließ das Handy aus der Hand auf den Boden gleiten. Sie konnte nicht denken. Alles in ihr war taub und unfähig sich zu bewegen.
Ihr Vater war tot. Er war tot und sie war nicht da gewesen. Er war tot und sie hatte ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Wie lange war es her, dass sie ihre Eltern das letzte Mal besucht hatte?
„Viel zu lange“,
sagte die ungebetene Stimme.
Zu all dem Schmerz und Kummer, den sie bereits in sich beherbergte, gesellte sich nun auch noch ein dicker Batzen Schuld, der sie bleiern hinabzerrte und von ihr getragen werden wollte. Sie schloss die Augen und vergrub das Gesicht in den Händen. Wie viel vermochte ein Mensch zu ertragen? Wie viel vermochte sie zu ertragen?
SECHZEHN
Gwen saß auf dem Rücksitz des Taxis und sah durch das Fenster auf das vorstädtische Reihenhaus ihrer Eltern.
„Wollen Sie nun aussteigen oder nicht?“ Die kratzige und ungeduldige Stimme des Fahrers riss sie aus ihrer Trance. „Ja, ich … ich steige hier aus.“
Sie kramte in ihrem Portemonnaie, zog einen fünfzig Euroschein hervor und reichte ihm dem Fahrer nach vorne. „Ich kann mein Gepäck selbst aus dem Kofferraum holen – sie brauchen nicht mit aussteigen.“ Sie stieß die Tür auf und ließ sich von der Rücksitzbank gleiten.
Nachdem sie ihre beiden Taschen aus dem Kofferraum geholt hatte, schlug sie den Deckel zu, schritt auf den Gehsteig und nickte dem Fahrer als Bestätigung zu, dass er fahren konnte.
Sie verfolgte ihn so lange, bis sie nicht mehr vorgeben konnte, sein Entfernen zu beobachten. Ein Teil von ihr wünschte sich, noch im Auto zu sitzen und sich zusammen mit ihm von diesem Ort zu entfernen.
Sie ignorierte diesen Teil, wand sich um und schritt den schmalen gepflasterten Weg zwischen der kahlen Rasenfläche hin zum Haus entlang.
An der Haustür angelangt ließ sie ihr Gepäck auf dem kleinen erhöhten Sims aufkommen. Ihre Hand zitterte leicht, als sie sie hob und die Klingel neben dem handgeschriebenen Türschild mit Aufschrift „Perrault“ drückte.
Einige Sekunden verstrichen, dann wurde die hölzerne Haustür geöffnet und ihre Mutter stand ihr gegenüber. Sie trug eine dunkelblaue Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Die dunkelbraunen mit grauen Strähnen durchzogenen Haare waren mit einer Klammer hochgesteckt. Vereinzelte Strähnen hingen heraus und umrahmten ihr Gesicht. Gerötete und gläsern schimmernde Augen offenbarten den Kummer, der dahinter verborgen lag.
Unzählige Gedanken und Worte wirbelten Gwen im Kopf herum. Aber kein Gedanke, kein Wort, schien angemessen, schien der Mühe wert, ausgesprochen zu werden. Vielleicht erging es ihrer Mutter ebenso. Auch ihre Lippen waren leicht geöffnet, ließen jedoch keinen Laut hervordringen.
Schließlich konnte sie einen Funken von Freude in den mokkabraunen Augen ihrer Mutter erkennen. Dies war der Tropfen, der die Dämme zu Fall brachte. Tränen bahnten sich haltlos ihren Weg nach draußen. Ein Schluchzen und Beben drang aus ihr hervor, ohne dass sie es daran hindern hätte können.
Ihre Mutter machte einen Schritt nach vorne, nahm sie in den Arm, wiegte sie, streichelte ihr über Rücken und Haare, wie es nur eine Mutter vermochte. Einzig ihr leises „Sch-sch-sch … sch-sch-sch …“ drang durch den Schleier aus Trauer zu Gwen hindurch, hielt ein kleines Fenster geöffnet, welches Licht hereinströmen ließ.
Ihre Mutter ließ sie weinen. Solange bis keine Tränen mehr in ihr vorhanden waren. Dann schob sie sie ein Stück von sich weg, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände um sie genauer in Augenschein nehmen zu können. „Du siehst müde aus, mein Schatz. Komm rein und leg dich etwas hin.“
Ihre Mutter selbst konnte keineswegs weniger müde aussehen, als sie es tat. Ob sie schon
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