Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
tun. Eine Erkenntnis, gefolgt von einem barschen Schnitt durch ihr Herz, ließ sie sich zusammenkrümmen. Seit Nikolaj und sie sich in jener Gasse wieder begegnet waren – als Erwachsene, nicht mehr als Kinder –, war da etwas Neues gewesen, das sich zwischen ihnen entwickelt hatte. Oder in Absicht gewesen war, sich zu entwickeln. Liebe. Nicht die von Kameraden, Freunden, Bruder und Schwester oder Vertrauten. Eine andere Art von Liebe. Größer. Tiefer. Einnehmender. Näher. Und ohne Frage mit einem beträchtlichen Maß an körperlicher Leidenschaft versehen.
Somit hatte sie diesmal noch mehr verloren, als damals. Denn Nick war nicht mehr Nick. Sie waren nicht nur räumlich getrennt, sondern auf jede Art und Weise, die es gab. Er war fortgegangen. Sie hatte ihn verloren. Ihren besten Freund. Ihren engsten Vertrauten. Den Mann, dem ihr Herz wahrscheinlich schon vom ersten Moment ihrer Begegnung gehört hatte. Auch, wenn sie es bis zu ihrem Wiedersehen nicht erkannt hatte.
Und jetzt? War ihre besondere Verbindung für immer vertan? Ihre Chance auf mehr als nur Freunde?
Eine ungebetene und spöttische Stimme raunte ihr zu:
„Verbindung? Chance auf mehr als nur Freunde? Seid ihr denn überhaupt noch irgendetwas? Seid ihr in Wahrheit nicht eher rein gar nichts mehr? Weder Freunde noch Turtelnde? Oder möchtest du einen Freund, der dich behandelt wie seine Leibeigene und sich einfach nimmt, was er von dir will?“
Sie versuchte, die Stimme zu überhören.
Obwohl die Erinnerungen und Gefühle an die real stattgefundene Szene präsent in ihr pulsierten, vermochte sie deren Wahrheit und Echtheit noch immer nicht zu akzeptieren. Ihr Verstand prallte gegen eine unsichtbare Mauer, die ihn daran hinderte die Geschehnisse zu begreifen. All das erschien ihr wie ein Traum. Ein Albtraum, der alle Zeit und allen Raum eingenommen und erobert hatte. Surreal. Unwirklich. Unmöglich.
Sie schlang die Arme um ihren Körper und spürte erneut, wie Tränen sich ihren Weg in die sichtbare Welt bahnten. Weder wusste sie, was sie jetzt machen sollte, noch, wo sie hin sollte. Zurück konnte sie nicht, aber vorwärts konnte sie auch nicht. Ein Teil von ihr wollte gar nicht vorwärts, sondern zurück. Zurück zu ihrer Arbeit, ihrem Leben, zu … Nick.
Erneut meldete sich die ungefragte Stimme in höhnischem Tonfall:
„Welcher Nick? Der Nick, den du gekannt hast oder der Nick, der jetzt existiert?“
Sie konnte das aufwallende Zittern nicht länger unterdrücken, rollte sich auf dem Bett zusammen und überließ sich dem Beben ihres Körpers.
FÜNFZEHN
Ihre weite Cargohose und ihr Wohlfühlsweatshirt tragend, stand Gwen am Fenster und sah hinab auf die belebte Straße. Autos verschiedenster Modelle und Farben fuhren die Straße auf und ab. Passanten in warmen Mänteln und Jacken, mit Mützen und Schals versehen, schlenderten die Gehsteige entlang. Herrchen mit ihren Hunden. Paare, die sich eng umschlungen hielten. Eltern mit ihren Kindern.
Sie beneidete diese Menschen. Allesamt. Sie sahen nicht so aus, als würde sie im Moment mehr beschäftigen als der Wind, der sie in kräftigen Böen umwogte.
Trotz der Tatsache, dass sie sich nicht in einer abgeschiedenen und verlassenen Gegend, sondern sich inmitten der belebten Innenstadt befand, fühlte sie sich derart allein, dass es ihr vorkam, als könnte niemand sie sehen, als wäre sie unsichtbar.
Der, nach dem sie sich sehnte – trotz alledem – war Nick. Scham und Naivität straften sie für diesen Wunsch, sodass sie ihn sich versagte. Sie war keine Masochistin. Sie war schlicht … allein. Daran gab es nichts zu rütteln.
Die entscheidende Frage war die, was sie dagegen unternehmen wollte – was sie dagegen unternehmen konnte. Denn sie war nicht bereit, sich mit dieser Situation abzufinden. Noch nicht. Gleichwohl war sie nicht bereit, Nikolaj aufzugeben. Nicht solange sie noch einen Funken Hoffnung in sich trug, dass alles wieder werden konnte, wie zuvor. Dass Nikolaj wieder der werden konnte, der er gewesen war, bevor er … verschwunden war.
***
Nikolaj hatte nicht bemerkt, dass sie ihm gefolgt war. Zwar hatte er sich einige Male verstohlen umgesehen, ganz so, als ob er spüren konnte, dass ihre Augen auf ihm ruhten, langsam über seine Züge, seinen Körper glitten und an vergangene Begegnungen dachten, in denen ihnen freie Sicht auf jede Stelle gewährt worden war. Doch sie wusste, wie man sich unsichtbar machte. Wie man in der Menge verschwand. Wie man
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