Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
geschlafen hatte, seitdem … Sie würgte. „Wann … wann ist es passiert?“
Das Gesicht ihrer Mutter spannte sich an. „Gestern Abend. Ich war … bei Margit … bei unserem wöchentlichen Frauenabend. Als ich nach Hause kam, etwa gegen elf, fand ich ihn in der Diele liegend vor. Als der Rettungswagen hier ankam, war es bereits zu spät … Sie konnten nichts mehr für ihn tun … Wenn ich nur nicht zu Margit gegangen oder früher nach Hause gekommen wäre, dann …“
„Nicht! Hör auf, Mama! Du trägst keine Schuld! Du … du hättest ihm möglicherweise nicht einmal helfen können, selbst wenn du hier gewesen wärst. Wenn du unmittelbar den Notdienst … Es ist nicht deine Schuld“, schloss Gwen nachdringlich ab.
Ihre Mutter atmete tief und schwer ein und aus. Dann schloss sie für einen kurzen Moment die Augen.
Ein Windstoß wirbelte Gwens Haare auf, strich kalt über ihren Nacken, sodass sich eine Gänsehaut von dort aus auf ihrem ganzen Körper ausbreitete. Unwillkürlich schüttelte sie sich, wie eine vom Regen überraschte Katze.
Ihre Mutter fasste sie ins Auge, griff nach ihrer Hand, zog sie ins Hausinnere und sagte: „Du holst dir noch eine Erkältung, wenn du hier zwischen Tür und Angel stehen bleibst. Das werden deine Patienten wohl nicht sonderlich begrüßen. Komm rein. Komm rein ins Warme.“ Ihre Mutter stellte sie in der Diele ab. Sie blieb unbewegt stehen, wie ein Möbelstück und sah dabei zu, wie ihre Mutter ihr Gepäck ins Hausinnere beförderte und dem eisigen Februartag die Tür vor der Nase zuschlug.
***
Die Sonne war noch nicht zur Gänze aufgegangen. Die Welt lag still und friedlich da. Gwen saß auf dem hölzernen Stuhl vor dem Küchentisch und umklammerte die vor sich stehende Tasse Kräutertee mit beiden Händen. Sie wärmte sich daran und hielt sich gleichzeitig an ihr fest. Kaffee wäre ihr lieber und vertrauter gewesen, doch im Haus gab es keinen.
Ihre Mutter schlief noch. Zumindest drang kein Laut aus ihrem Zimmer, der auf ihr Wachen hindeutete.
Nachdem sie am gestrigen Spätnachmittag angekommen war, hatte ihre Mutter sie direkt ins Bett geschickt. Nach einigem kläglichen Widerstand hatte sie schließlich klein beigegeben und sich im Bett des Gästezimmers, ihres alten Kinderzimmers, verkrochen.
Aufgewacht war sie irgendwann gegen vier Uhr morgens. Seither saß sie hier am Küchentisch, erfüllt von einer seltsamen Gefasstheit und Nüchternheit, die sie alles aus sicherer Entfernung betrachten und wahrnehmen ließ.
Die Küche sah noch genauso aus, wie bei ihrem letzten Besuch. Honigfarbene, rüstige Landhausmöbel schmückten den Raum und verliehen ihm ein behagliches und warmes Klima. Eine hellblaue Tischdecke lag auf dem rechteckigen Küchentisch, dessen Mitte von einer Vase mit gelben Tulpen geziert wurde. Der Boden bestand aus cremefarbenen Fließen, die mit hellblauen Läufern ergänzt waren. Vorhänge aus sattem Kornblumenblau verzierten die Fensterrahmen, weiße Gardinen dazwischen stahlen dem Einblick von draußen die Sicht. Auf den Fensterbrettern standen Töpfchen mit verschiedenen Kräutern, deren Duft im ganzen Zimmer schwebte. Die Wände waren in leichtem Zitronengelb gestrichen und mittig im Raum hing eine halb hölzern, halb gläserne große Leuchte von der Decke herab.
Alles sah genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Eine Erinnerung, die sie nunmehr seit zwei Jahren in sich trug. So lange war sie nicht mehr hier gewesen. Und auch davor war sie viel seltener hergekommen, als sie es hätte tun sollen. Der Gedanke, wie viele Male sie ihren Vater hätte sehen können, wenn sie öfter zu Besuch gekommen wäre, nagte dumpf an ihr.
Sie presste die Finger noch dichter an die Tasse, überging das ansteigende Hitzegefühl. Bevor sie in die Küche gekommen war, hatte sie ihre Taschen in der Suche nach ihrem schwarzen Kleid durchwühlt. Doch es war nicht dabei gewesen. Sie würde sich ein Neues kaufen müssen. Ebenso wie dazu passende Schuhe. Für die Beerdigung. Schließlich konnte sie nicht in Jeans und Sweatshirt dorthin gehen.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster, dann auf die Küchenuhr. Es war mittlerweile kurz vor halb acht. Sie erhob sich vom Stuhl und öffnete die Schublade neben dem Besteckkasten. Noch immer tummelte sich darin ein Sammelsurium von Kugelschreibern, Bleistiften, Klebezetteln, kleinen Blöcken und Heften. Sie nahm einen karierten Spiralblock und einen grünen Kuli heraus, setzte sich wieder an den Küchentisch
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