Wenn das der Führer wüßte
widerwärtig das alles war! Den VW hatte er knapp vor Berga eingebüßt. Dort mochte der havarierte Wagen jetzt im Graben liegen, neben anderen Wracks, auf der großen Flüchtlingsstraße nach Nordosten. Karambolage – Motorschaden. Ein Hornochse war ihm mit voller Wucht ins Heck hineingefahren. Der Kopf brummte ihm noch, aber der hatte ihm schon vorher gebrummt. Lauter Verluste! Und Axel! Es tat weh, wenn er an den Jungen dachte. Fast so weh, wie wenn er an Ulla – – – Landgraf, werde hart!
Auch bei Kummernuß war Höllriegl sogleich gewesen, schon wegen der gestohlenen Waffe. Kummernuß, ohne Frau, weil geschieden (eine Unfruchtbarkeitsscheidung), lag mit schmerzverzerrtem Gesicht im Bett, gerade hatte er einen seiner berühmten Wadenkrämpfe. Er war noch immer nicht genesen. („Komplikation: grippiöse Rippenfellentzündung.“) Sein Leibeigener, ein Halbidiot aus der Bukowina, war noch vorhanden. Neben dem Bett hing die Hundspeitsche.
Man besprach die Lage. Kummernuß, der beim Nachrichtensturm diente, gab unumwunden zu, keinen Ersatzwagen an der Hand zu haben. Er kannte aber einen Rottenführer, der Mann arbeitete als Automechaniker beim Lehrsturm der SS -Motorstandarte 86 in Sondershausen, der würde so gut wie sicher einen Volkswagen, allerdings Baujahr 58, freistellen können, vielleicht sogar einen noch halbwegs tauglichen Opel-Kadett. Wahrscheinlich werde es auch glücken, Ersatz für die kostbare Straßenkarte zu beschaffen. Und wenn alle Stricke rissen, könnte Höllriegl vorübergehend einen der Dienstwagen des „Kyffhäuser-Boten“ fahren – dies sei ja wegen der immer knapper werdenden Treibstoffzuteilung wohl das Vernünftigste.
Plötzlich machte Kummernuß, der sich fortwährend die Wade massierte, ein angestrengtes Gesicht. Nicht gerade wie ein Denker; vielmehr wie einer, der sich beim Kreuzworträtsellösen schwertut. „Kamrad, du erinnerst dich, daß U 209 im Pazifik einen japanischen Bomber angeschossen hat, dabei soll es zu einer atomaren Explosion gekommen sein. Das heißt also, der Japs hatte eine A-Bombe, eine von der kleinsten Sorte, an Bord und sie per Zufall ausgeklinkt. Das war für uns der Vorwand, mit der gleichen Waffe loszuschlagen. Ein Vorwand, verstehst du.“
Er geriet jäh ins Grübeln und brütete eine Weile vor sich hin. „Nee – wegen der Scheißpistole brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich bringe das durch meinen Schwager in Ordnung oder durch den Stapo-Leiter im Parlament, den Vitzdumm, du kennst ihn ja. Nimm derweil eins von meinen Dingern …“ Er drehte das Radio an. „– – – auf Grund einer Zusatzverordnung zur Naturschutzverordnung vom 18. März 1936 ist es ab nun verboten, folgende wildwachsende Pflanzenarten zu beschädigen oder von ihrem Standort zu entfernen –“
An Kummernuß’ Bemerkung mußte Höllriegl jetzt immer denken. (Nicht viel hätte gefehlt und der Kamerad hätte gesagt: Wers glaubt, wird selig.) Zum drittenmal schon machte er heut im Ofen Feuer. Viel Rauch und wenig Wärme. Dann kochte er sich seinen Kamillentee und ein Haferschleimmüsli. Um jeden Blödsinn mußte er sich kümmern – die Ingrid war, wenn sie frei hatte, bei der Frauenschaft dienstverpflichtet. Das Gemeinste war, daß er seit der blöden Sauferei im Rasthaus an Durchfällen litt und sich daher nicht ins Freie wagen durfte. Alle Augenblicke mußte er aufs Häusl.
Die Patientenpost – Prostatabeschwerden, Krebsknoten, Impotenz, Gefäßkrämpfe, Schlafstörungen – streifte er mit einem abwesenden, abschätzigen Blick. Das Heiligste, das Reich, war in Gefahr, die Leute aber kümmerten sich nur um ihre Wehwehchen. Seit seiner Heimkehr lagen die Briefe unerledigt auf dem Kanapee. Und unten im Sprechzimmer stauten sich Stöße von Drucksachen, Lehrbriefe und Zeitschriften, die auch noch nicht gesichtet waren. Er hatte zu nichts Lust, das ständige Grimmen verdarb ihm sogar den Genuß des Radiohörens.
Von der Hindenburg-Chaussee drang rhythmisches Gebrüll herüber. Obwohl die Behörden Schweigemärsche angeordnet hatten und ein Aufruf Köpflers im Rundfunk verlesen worden war, den großen Tag in würdiger Form, also still, zu begehen, kam es allerorten zu spontanen politischen Kundgebungen, insbesondere unter den vielen ausländischen Gruppen. Auch die Spaliere verhielten sich nicht gerade zurückhaltend. Diesmal hörte Höllriegl den taktmäßigen Nationalslogan der Amerikaner, der zugleich Feldgeschrei der Minutemen war: „Commercial! Commercial!
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