Wenn das der Führer wüßte
Notdurft“, sagte Anselma nach einer Weile.
„Nein – es ist Liebe“, widersprach er. Lange Pause. Sie schien zu schlafen.
„Es ist Begierde, Lust, es ist ein Kitzel – weiter nichts. Ich hatte ein paar Kollegen eingeladen, um uns zuzusehen …“
Höllriegl schnellte empor. Alles in ihm zog sich zusammen, jeder Muskel vibrierte, es überlief ihn eisig. Sie war wahnsinnig!
„ Was hast du gesagt?“
„Ich habe Freunde vom Amt eingeladen – zum Zusehen“, wiederholte sie ruhig und ohne Spott. „Dort, die Masken an der Wand, durch ihre Augenschlitze kann man zuschauen, vom Nebenzimmer aus. Diesmal war ich an der Reihe. Gestern wars eine andere. Wir suchen uns kräftige Kerle aus, die auch nett sind.“
Er rührte sich nicht, Entsetzen lähmte jede Reaktion. Sein Gesichtsausdruck reizte sie zum Lachen. „Nimms nicht tragisch! Macht ihr so was nicht in der Provinz?“ Jetzt unverhüllter Spott.
„Hur!“
Als sie ihn anrührte, zuckte er zurück. Ekel! Die Seligkeit zuvor und nun der Abgrund! Es wurde ihm speiübel, Kälte kroch prickelnd von den Zehen herauf in die Beine. Auf einmal fror ihn, er zitterte vor Kälte. Wortlos stand er auf, kleidete sich an. Er vermied es, zu ihr hinzusehen, was etwas Verkrampftes hatte. Er war lächerlich, alles war lächerlich. Einen Herzschlag lang dachte er an Ingrid – das war der Rückzug, vielleicht die Rettung. Das Letzte, was er noch hatte. Ingrid!
„Nehmen Sie es nicht tragisch! Bleiben wir Freunde. Sie haben ja dabei ohnehin nur an Ulla gedacht, stimmts? Ulla hat Sie abgewiesen – das ist nicht schwer zu erraten. Vielleicht war sie gerade nicht bei Laune, oder Sie haben es dumm angestellt. Sonst ist meine liebe Schwägerin nicht so.“
Er antwortete nicht. Ekel, Lähmung, Ekel. Plötzlich heulten draußen die Sirenen auf. Alarm! Es war Alarmstufe Eins, das Signal, in die Tiefbunker zu gehen. Ohne Vorwarnung – also Ernst, keine Übung! Atomgefahr. Ein Überfall.
Das eintönig hohe Heulen zerriß die Luft, Nun sah Höllriegl zu Anselma hinüber, die in ihrer schauerlichen Nacktheit noch immer auf der Couch lag. Man wechselte erschrockene Blicke. Anselma sprang auf, raffte den Kimono an sich und verschwand.
Ungeheuerliches war geschehen. Seit Sonnabend hatte sich alles verändert. Erniedrigung folgte auf Erniedrigung. Der Schlag, den Anselma ihm versetzt hatte, war viel ärger als Ullas Züchtigung. Jetzt war alles gleichgültig, mochte eine Bombe sie alle vernichten. Er war am Ende.
Erstarrt blieb er sitzen – Sekunden, Minuten, Stunden?
Die Zeit verödete, versandete. Das Sirenengeheul sank mit mißtönendem Abschwellen zu einem gräßlichen Miauen herab. Und erstarb.
In der darauffolgenden Stille, die unheimlich war, hörte er, wie aus dem Lautsprecher im Vorzimmer eine Durchsage kam. Im Korridor stand Anselma in Strahlenanzug und Pelz, Ko trug den vorschriftsmäßig gepackten Luftschutzkoffer und den Schutzhelm seiner Herrin.
„Kommen Sie – rasch!“
Die Mitteilung wurde wiederholt: „Alle Volksgenossen des Hauses Neuenburger Straße 38 gehen in den Tiefbunker, Schutzanzüge fassen. Die Leibeigenen vergattern sich in der Waschküche vor der Befehlsstelle. Weitere Weisungen um 22.05 Uhr. Ende der Durchsage.“ Es war der Blockwart, zugleich Luftschutz-Kapo, der über das Hausnetz sprach.
Jetzt erst bemerkte Höllriegl vier Personen, eigentlich Schatten von Personen, die auf Anselma und ihn gewartet hatten. Sie standen schon im Flur, ein Herr und drei Damen, eine von ihnen von zwergigem Wuchs. Im dämmrigen Alarm-Blaulicht des Stiegentraktes, es war eine Beleuchtung wie am Meeresgrund, sah alles unwirklich aus, die Gesichter waren kreidig, mit tiefen Schatten, die Mundbewegungen verzerrt und ohne Sprache. Anselmas schneidiger Befehlston beherrschte die Gruppe. „Ihr faßt eure Schutzanzüge im Bunker“, sagte sie zu ihnen, es waren vermutlich die Amtskollegen. Schweigend gingen sie alle hinunter, die Damen trippelten mit ihren eleganten Hüfchen, jedermann wich den Blicken des andern aus. Als sie im Erdgeschoß waren, unterbrach Anselma noch einmal die Stille: „Ko, du gehen mit Herrin in Bunker – nicht Keller!“ Frau Geldens konnte sichs offenbar leisten, einem Befehl der Luftschutzleitung zuwiderzuhandeln.
Sie passierten hermetisch abschließbare, schottartige Sicherheitszellen, besser: sie wurden da langsam durchgeschleust, nachdem sie in Strahlenschutzanzüge geschlüpft waren und Maskenhelme erhalten hatten, die ihnen das
Weitere Kostenlose Bücher