Wenn das der Führer wüßte
Autos. Als er die Lindenstraße überquerte, um in die Nauenburger Straße einzubiegen, gewahrte er wieder eine Streife, die mit ihren blauen Blinklichtern bösartig funkelte. Instinktiv wich er aus, mit einer mißmutigen, ja angewiderten Reaktion, über die er sich keine Rechenschaft geben konnte. Diesmal war es eine Wehrmachtstreife gewesen. Auf dem nachtdunklen Himmel zeichneten sich, wie ziehender Speichel, tastende Lichtstrahlen ab. Im Süden war der Himmel von ihnen geradezu gegittert.
Die warme, matte Beleuchtung im Flur von Anselmas Wohnhaus begrüßte er mit einem Seufzer der Erleichterung. Die Nacht draußen schien voller Drohungen zu sein, hier war man geborgen. Er nahm nicht den Aufzug, sondern stieg (Beintraining!) die Treppe hinauf, wobei er sich auf Anselma zu konzentrieren versuchte. Ein elegantes, sichtlich ganz neues Haus; die Lichtfalle am Eingang und die schwarzen Luftschutzrollos störten ein wenig den anheimelnden Eindruck. Zwei Burschen mit irgendwelchen Armbinden, eigentlich noch richtige Buben, kamen ihm entgegen, die einen älteren Herrn begleiteten. Der Herr hatte weder Mantel noch Hut, auch keine Krawatte. Höllriegl grüßte – kein Antwort.
An der Tür mit Anselmas Visitenkarte läutete er, worauf drinnen schlurfende Schritte hörbar wurden und jemand durchs Guckloch sah. Höllriegl nannte seinen Namen. Ein weißhaariger Chinese mit Nickelbrille und schütterem Kinnbärtchen öffnete unter vielen kleinen Bücklingen. Der zierliche Mann in seinem blusenartigen Anzug von halbeuropäischem Schnitt lächelte unentwegt und zeigte dabei dunkelgelbe, keulenförmige, weit auseinanderstehende Zähne. Die Hände hielt er in den Ärmeln verborgen. Ko Won sah eher wie ein Gelehrter aus, nicht wie ein Diener.
Dem mit zirpender Stimme vorgetragenen Wortschwall aus Deutsch, Pidgin-Englisch und vermutlich Chinesisch entnahm Höllriegl bloß, daß die „Missis“ noch nicht zu Hause sei, aber bald kommen werde. Ko führte Höllriegl ins anstoßende Wohngemach, das sogleich durch mehrere bizarr geformte Beleuchtungskörper aus Bast und dünner hellgrauer Seide gedämpft erleuchtet wurde. Höllriegl hatte gestern die Räume im Foto gesehen. Sie waren in fernöstlichem Geschmack eingerichtet und wirkten kühl und beinah kahl, die Holzwände schienen verschiebbar zu sein. Im Sitzzimmer gab es außer der breiten Couch und einem niedrigen Tisch mit Hockern keine Möbel. Ein einziger, sichtlich alter Holzstich in Kakemono-Art und mehrere grimmig aussehende Kriegermasken aus rotbraunem glänzendem Holz hingen an den Wänden. In einer Ecke stand eine Vase mit großen sandfarbenen Disteln. Keine Bilder – kein Führerbild! – keine Bücher, nichts.
Ko Won bedeutete Höllriegl unter reizenden Verbeugungen, sichs einstweilen auf der Couch bequem zu machen. Aus dem Ordnen der blaß violetten Winterastern, die Höllriegl ihm übergeben hatte, machte er eine kleine Zeremonie. Dann legte er fürsorglich und väterlich kichernd Polster zurecht, sagte „da Missis, da Gentleman“ und „kabu-wake, kabu-wake in Japanese flower language“. Sein Benehmen hatte etwas amüsant Zweideutiges, so zeigte er mehrmals auf eine bestimmte Stelle des Ruhebetts, streichelte sie, wobei er immer wieder „Missis“ sagte und „hon-kate“ und „da Blume sein, gute Stellung“ und „da Gentleman, Seite von Missis, oh, good position, lovie-lovie, Missis lieben das“. Und; „Da Seite liegen, und Missis so, Blume da, much lovie-lovie …“
Ko verließ das Zimmer, nachdem er in einer Schale Süßigkeiten angeboten hatte. Seine Worte, mehr noch seine Gesten, hatten Höllriegl erregt. Wie sehr erwartete er nun Anselma! Die Pulse flogen, er wälzte sich auf der Couch herum, schnupperte an den Polstern und an der Decke, die Anselmas altmodischen Geruch ausströmten: den süßen Geruch von modernden Blumen.
Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Es war schwer, dieser nervösen Erregung Herr zu werden. Warum war sie noch nicht da? Wo war sie nur? Heute mittag hatte sie Schatten unter den Augen gehabt, gestern abend war sie ausgewesen! Sinfiôtli! Sinfessel! Er kämpfte mühsam eine eifersüchtige Regung (wie lächerlich!) nieder und vertiefte sich in das Hängebild; es stellte in verblichenen Farben eine Szene in einem Tümpel dar, mit Gräsern, Libellen, Schnecken, Wasserkäfern, einer Blindschleiche. Als er es ein wenig aufrollte, sah er, daß in der Nische dahinter ein Fernsehgerät verborgen war. Die Masken, vielleicht
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