Wenn das Glück dich erwählt
lachte, und das lockerte ein bisschen die plötzlich eingetretene Spannung zwischen ihnen. »Ich weiß schon, was Sie meinten«, sagte sie. »Sie wollten mir zu verstehen geben, dass Mr. Keating ein Gentleman ist.«
Scully runzelte die Stirn. »So weit würde ich nicht gehen«, entgegnete er todernst.
Evangeline beschloss, den Einwand zu ignorieren, da es ohnehin kein Zurück mehr gab.
Scully sa h jetzt noch peinlicher berührt als vorher aus. »Was ich Ihnen sagen wollte, ist, dass Big John ab und zu eine gute Prügelei durchaus zu schätzen weiß und dass er gern mit hübschen Frauen tanzt. Er kauft ihnen auch Geschenke ... Firlefanz und Schnickschnack ...« Er errötete unter seiner Sonnenbräune und fluchte unterdrückt. »Verdammt!«
Bevor sie wusste, was sie tat, legte Evangeline die Hand auf seinen Arm und fühlte die harten Muskeln durch den Ärmel seiner Jacke. »Schon gut«, beruhigte sie ihn. Sie blickte zu Abigail und sah, dass das Kind inzwischen eingedöst war und Scullys Fluch deshalb nicht gehört haben konnte. »Sagen Sie mir, wie Mr. Keating aussieht. Abgesehen davon, dass er groß ist, meine ich.«
Scully schwieg eine Zeit lang und suchte mit schmalen Augen die Umgebung ab, als ob er dort die Antwort finden könne. Aber wahrscheinlich hielt er bloß Ausschau nach Anzeichen von Gefahr. »Ich dachte, er hätte Ihnen sein Bild geschickt«, sagte er schließlich unbehaglich.
»Die Leute sehen nie wie ihre Fotografien aus«, wandte Evangeline ein. Zumindest hoffte sie, dass es so bei Mr. Keating war. Auf dem Bild, das er ihr zugesandt hatte, zusammen mit dem Brief und der Bankanweisung, die ihr Leben verändert hatten, sah er grimmig und fast ein bisschen Furcht erregend aus, und obwohl er breite Schultern hatte, war sein Gesicht sehr hager und erinnerte irgendwie an einen Totengräber. Sein braunes, mit grauen Strähnen durchzogenes Haar war schon sehr spärlich auf dem Oberkopf und reichte ihm an den Seiten bis über die Ohren, und sein steifer Kragen schien ihn zu ersticken.
»Big John schon«, erwiderte Scully flach. Niemand könnte ihm Beschönigung vorwerfen, dachte Evangeline und wusste nicht, ob sie ihm dafür Anerkennung zollen oder es bedauern sollte. Da ihr keine Antwort einfiel, blieb sie still. Nach einer Weile begann sie vor Kälte jegliches Gefühl in ihren Zehen zu verlieren.
Ab und zu kniete sie sich auf den Vordersitz des Schlittens, wobei sie intensiver mit Scullys Körper in Berührung kam, als ratsam war, und griff nach hinten, um sicherzugehen, dass Abigail gut zugedeckt war. Das kleine Mädchen schlief tief und fest, einerseits, weil es noch sehr früh am Tag war, und andererseits wegen der ruhigen, gleitenden Bewegungen des Schlittens.
Scully schien das Schweigen nicht zu stören; aber natürlich war er auch daran gewöhnt, sehr viel allein zu sein. Eine angenehme Trägheit hatte Evangeline erfasst, vermutlich aus den gleichen Gründen, aus denen ihre Tochter schlief. Sie döste einmal ein, nur um dann grob geweckt zu werden von einem Stopp, der so plötzlich kam, dass sie vielleicht über den Schlitten hinweg nach vorn zwischen die Maultiere gestürzt wäre, wenn Scully sie nicht an ihrem Umhang festgehalten hätte.
Sie riss die Augen auf und hätte sie am liebsten sofort wieder geschlossen. Eine Gruppe von sechs Indianern bildete eine menschliche Barriere quer über den Weg; vier ritten eigene Pferde, die anderen beiden teilten sich eine magere braune Stute. Sie waren mit Hirschlederfellen bekleidet, trugen alle Pfeil und Bogen, und ihre Pferde waren dürr und schmutzig. Misstrauisch beäugten sie das Gewehr, das quer über Scullys Schenkeln lag.
»Bei Jupiter und Zeus!«, rief Abigail so begeistert wie ein Sünder, der eine Erleuchtung hat, und richtete sich im hinteren Teil des Schlittens auf. »Indianer!«
Evangeline rührte sich nicht und drehte sich nicht zu ihr um. Tatsächlich bewegte sie sogar kaum die Lippen, als sie zischte: »Abigail! Wenn du dich nicht sofort hinsetzt und den Mund hältst, kriegst du das ganze Jahr lang keine Süßigkeiten mehr - nicht einmal zu Weihnachten!«
Scully lachte leise, obwohl seine Aufmerksamkeit noch immer den Indianern galt. »Sie sind eine strenge Mutter, Mrs. Keating.«
Es war nicht der richtige Moment, sich gekränkt zu geben, obwohl Evangeline sicher war, dass sie es gewesen wäre, wenn sie Gelegenheit dazu gehabt hätte. »Was wollen sie?«, wisperte sie, unfähig, den Blick von den Indianern abzuwenden. Sie boten
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