Wenn das Glück dich erwählt
erstaunlich; sie hatten schon seit Stunden nicht mehr angehalten. »Ich auch«, gestand Evangeline. »Komm mit.« Sie stieg vom Schlitten und streckte die Arme aus, um ihre Tochter von dem hohen Sitz zu heben. Der harte Schnee war ziemlich tief, und er ächzte und knirschte beim Gehen unter ihren Füßen. Sie fanden Schutz hinter einem großen Strauch, erleichterten sich und kehrten dann zurück zum Schlitten.
Scully wartete schon, und die Maultiere waren wieder angespannt, obwohl sie nicht gerade glücklich darüber schienen. Lächelnd hob Scully Abigail auf ihren Sitz zurück und wickelte sie fürsorglich in die dicken Bärenfelle. Evangeline versuchte noch immer einzusteigen, als sie plötzlich Scullys Hände um ihre Taille spürte. Mit einer raschen, unaufdringlichen Bewegung hob er sie vom Boden auf und in den Schlitten.
Nur wenige Minuten später waren sie schon wieder unterwegs, und die Sonne sank allmählich tiefer. Evangeline fror so sehr, dass sie die Kälte beinahe nicht mehr spürte, aber sie hätte eher ihre Finger und Zehen abfallen lassen, als sich zu beklagen. Scully musste genauso frieren wie sie selbst, und er hatte kein Wort gesagt bisher.
Sie waren schon ein gutes Stück weiter vorangekommen, als er den Schlitten anhielt und sich zu ihr wandte. »Wir werden noch vor Sonnenuntergang zu Hause sein«, sagte er. »Ich zünde dann sofort ein Feuer an. Aber wollen Sie sich bis dahin nicht zu Ihrer Tochter setzen? Sie könnten sich unter die Felle kuscheln und sich gegenseitig warmhalten.«
»Und Sie?«, fragte Evangeline und war gerührter über seine schlichte Freundlichkeit, als sie bei Charles und seiner nachlässigen Fürsorge je gewesen war.
Er grinste. »Ich glaube nicht, dass Big John begeistert wäre, wenn ich mich mit Ihnen unter die Felle setzte«, antwortete er, weil ihm bewusst war, dass Abigail inzwischen wieder schlief. »Gehen Sie nur. Der Kleinen wird auch wärmer sein, wenn Sie sich zusammen unter die Felle kuscheln.«
Evangeline kletterte ungeschickt nach hinten, und mit einigen raschen Bewegungen gelang es ihr, Abigail auf ihren Schoß zu ziehen, ohne sie zu wecken. Als beide in den ein wenig streng riechenden Bärenfellen eingewickelt waren, setzte Scully die Maultiere mit einem Pfiff und einem Zügelklatschen wieder in Bewegung.
Die Abenddämmerung warf bereits ihre Schatten auf den Schnee, als das Haus in Sicht kam, und das Heulen von Wölfen und Kojoten echote aus den nahen Bergen und dem Wald. Evangeline spähte durch die zunehmende Dunkelheit auf das Holzgebäude, das von nun an ihr und Abigails Zuhause sein würde. Es konnte höchstens drei Räume haben, schätzte Evangeline, ohne den angrenzenden Schuppen mitzuzählen, aber für sie sah es wie ein Palast an diesem Abend aus. In der Nähe des Wohnhauses gab es eine Scheune mit einer leeren Koppel und noch verschiedene andere Außengebäude und Schuppen. Junge Obstbäume mit kahlen Ästen standen in Reih und Glied wie Soldaten auf dem kleinen Hügel oberhalb des Hauses. Schnee bedeckte schwer sein Dach, aus dem zwei Kamine - einer aus Blech, der andere aus Stein - in den sich rasch verdunkelnden Himmel aufragten.
»Sind wir zu Hause, Mama?«, fragte Abigail blinzelnd und rieb sich die Augen. »Ist das unser Haus?«
Evangeline konnte nur nicken, weil sie viel zu müde und steif vor Kälte war, um irgendetwas anderes zu tun.
Scully erschien ihr noch genauso schwungvoll wie an diesem Morgen, als er noch vor Tagesanbruch an einem der Tische der Postkutschenstation gesessen und das Frühstück verschlungen hatte, das June-bug ihm serviert hatte, als ob er völlig ausgehungert wäre. Er lenkte die Maultiere und den Schlitten vor das Haus - das eigentlich mehr die Bezeichnung »Hütte« verdiente, dachte Evangeline kritiklos und schaute zu den hohen Fenstern auf, deren Läden fest geschlossen waren.
»Wir haben richtige Glasscheiben«, sagte Scully stolz, als er ihren Blick bemerkte.
Sie und Abigail stiegen mit seiner Hilfe aus dem Schlitten, und Abigail lief zum Haus hinüber und riss die schwere Holztür auf. Evangeline wusste, dass es nicht der Wunsch nach Geborgenheit war, der ihre Tochter lenkte, sondern nichts anderes als pure Neugierde. Daheim in Pennsylvania hatte sie oft damit geprahlt, dass sie demnächst auf einer Ranch leben würde, wo sie ein Pony haben und Freundschaft mit wilden Indianern schließen würde.
Evangeline folgte ihrer Tochter, ging aber sehr viel langsamer.
Es stellte sich schon bald heraus,
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