Wenn Das Leben Dir Eine Zitrone Gibt, Frag Nach Salz Und Tequila
winzigen Fauxpas, mein Pas de Bourrée war nicht ganz hundertprozentig sauber gewesen, aber er war Madame Constantinés Argusaugen natürlich nicht entgangen: »Sonya, meine Liebe, komm doch mal nach vorn.«
Oh-oh, dieser Tonfall verhieß nichts Gutes. Ich watschelte angstvoll auf die kleine Frau mit dem runzligen Gesicht und dem knallroten Paloma-Picasso-Lippenstift zu. »Sonya, jetzt tanz uns allen doch bitte einmal die komplette Folge vor. Auf der Bühne kannst du dir Fehler wie diesen nicht erlauben.« Klack! Sie drückte mit dem Taktstock auf die »Ein«-Taste der Stereoanlage, Schubert schallte durch den Raum. Meine »Kommilitoninnen« ließen sich anmutig lautlos auf dem Parkett nieder und hefteten mit arrogantem Lächeln ihren hochnäsigen Blick auf mich. Ein Königreich für ein Loch im Boden, in dem ich verschwinden konnte. Aber nichts. Kein Loch. Wahrscheinlich wäre ich sowieso mit meinem 75B-Atombusen hängen geblieben. Es kam auch kein Supermann, um mich zu retten. Kein Prinz auf einem Schimmel. Kein Patrick Bach, der in »Anna« die Protagonistin immer dann tröstete, wenn es ganz arg kam. So blieb mir nichts anderes übrig: Ich tanzte. Nach etwa drei Minuten, die sich anfühlten wie drei Lichtjahre, verstummte abrupt die Musik: »Halt! Von vorn!«, brüllte Constantiné, sodass jeder Feldwebel vor Neid erblasst wäre. Ich hatte vor lauter Aufregung wieder gepatzt.
Von hinten unten hörte ich unterdrücktes Kichern. Diese kleinen Arschgeigen! Die Musik setzte ein. Ich tanzte wieder los. Diesmal dauerte es höchstens eine Minute, bis Schubert unsanft gestoppt wurde und ich wieder anfangen musste. Das waren hier erstklassige Foltermethoden. Das Adrenalin pumpte sich durch meinen ohnehin hormongeplagten Mutantenkörper, die Demütigung legte sich auf mein Gemüt wie der schwere Samtvorhang vor den Fenstern des Konservatoriums. Nach meinem fünften Anlauf brach meine Lehrerin den Schaustraftanz ab. Theatralisch verdrehte sie die Augen gen Himmel: »Das wird wohl nichts mehr. Ich denke, wir machen weiter – sonst werden die anderen noch kalt.« Kalt werden – ha, als wenn diese menschlichen Eiszapfen noch kälter werden könnten.
Ich kam heulend und wütend nach Hause, verzichtete trotz Bärenhunger aufs Abendbrot und verzog mich stattdessen mit meinem zuverlässigen Seelentröster – einem Glas Nutella – in mein Zimmer. Meine Mama klopfte besorgt an meine Tür, doch auf ihre vorsichtige Erkundigung, was denn sei, murmelte ich nur: »Kopfschmerzen, sorry, Mama.« In meinem Kopf brummte eine Frage: Sollte ich das wirklich weiter eisenhart durchziehen? Die Schule, wie ursprünglich geplant, an den Nagel hängen? Trotz allem die professionelle Ballettausbildung machen? Mit dem Risiko, dass ich, statt Karriere als Primaballerina zu machen, am Ende den Männerpart tanzen musste? Vorausgesetzt natürlich, man bekam meinen Pornobalkon irgendwie platt gebunden?
Diese Gedanken hatten mich schon länger beschäftigt; die Demütigung heute hatte einfach nur das Fass zum Überlaufen gebracht. Die zentrale Frage war: Tat mir das noch gut? Ich war talentiert, ich konnte tanzen – keine Frage. Aber war der Traum vom klassischen russischen Ballett noch realistisch? Oder würde Luzie recht behalten und mir blieb eines Tages nur noch die Wahl zwischen Lido, Moulin Rouge oder Schlimmerem? Ich war jetzt bereits zu groß für die Primaballerina-Karriere – und der Arzt hatte mir prophezeit, dass es durchaus passieren konnte, dass ich erst bei 1,85 Metern aufhörte zu wachsen. Schließlich war mein Vater auch so groß gewesen, bevor er … Ich brach den Gedanken ab, über den Tod meines Vaters vor drei Jahren nachzudenken war jetzt einfach zu viel. Ich zwang mich, mich auf die Ballettfrage zu konzentrieren. Ich horchte in mich hinein. Mein Kopf und mein Bauch konferierten – und während ich so vor mich hingrübelte, schlief ich ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren meine Zweifel, was ich tun musste, wie weggeblasen. Ich war vollkommen sicher, was zu tun war.
Beim Frühstück sagte ich zu meiner Mutter: »Mama, ich geh nicht mehr zum Ballett. Ich hör auf.«
Vor lauter Schreck kippte Mama fast ihre Kaffeetasse um: »Aber Sonya, die ganzen Jahre …«
Ich blieb bestimmt: »Das bringt doch nichts. Ich bin einfach zu groß. Ich will nicht zum Lido. Und das Bolschoi war eh nie realistisch.«
Mama suchte nach Worten: »Aber das Ballett hat dir doch immer solchen Spaß gemacht. Vielleicht kannst du das
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