Wenn das Schlachten vorbei ist
Ausweg. Sie stellte einen Fuß auf einen Vorsprung, tastete mit den Händen nach einem Halt, zog den zweiten Fuß nach. Geduldig, das Gesicht an die Felswand gepresst, arbeitete sie sich fünf, sechs Meter weit hinauf, doch als sie zum drittenmal hinuntergefallen und hart auf dem Sand und im kalten Wasser gelandet war, gab sie es auf. Es hatte keinen Zweck. Sie war gefangen. Sie unterdrückte die Panik, die sie durchzuckte. Sie hatte keine Angst, jetzt nicht mehr – das lag hinter ihr. Das einzige, was sie spürte, war Ärger. Wut. Warum war sie verschont worden, nur um hier zu verdursten, zu verhungern, zu erfrieren? Wo war da Gottes Hand? War das etwa Sein Wille? Als es schließlich ganz dunkel und der Nebel so dicht war, dass sie nicht einmal die Sterne sehen konnte, geschweige denn die Positionslichter eines Schiffes, das vielleicht im Santa-Barbara-Kanal umherfuhr und nach ihnen, nach Überlebenden suchte – und hier sah sie vor ihrem geistigen Auge Till und Warren, die, in Decken gehüllt, in einer leise schaukelnden Kajüte saßen und Becher mit heißem Kaffee tranken, umgeben von warm leuchtendem Holz, im Licht einer leise schwankenden Laterne –, hielt sie die Kühlbox umklammert und zwang sich einzuschlafen.
Bei Tagesanbruch erwachte sie von den Schreien der Möwen, die wie das Öffnen und Schließen einer Tür mit ungeölten Angeln klangen, dabei gab es hier keine Tür, kein Bett, kein Zimmer, keine Kleider, keine Wärme, und die Möwen konnte sie wegen des Nebels nicht sehen. Sie zitterte im ersten Tageslicht, schlug sich auf Beine und Schultern und kauerte sich zusammen, und dann überfiel sie wieder der Durst. Er trieb sie an, und sie stand schwankend auf. In der Nacht war die Flut zurückgegangen und wiedergekehrt, so dass ihre Welt nur noch aus diesem Sims und der aufragenden Felswand bestand. Sie wollte einen Krug Wasser, sonst nichts. Sie stellte sich den weißen Porzellankrug in ihrer Küche vor, ein Erbstück von ihrer Mutter, das sie nur zu besonderen Gelegenheiten hervorholte, und es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass es beständig auf ihre Schulter getropft hatte, weswegen sie unbewusst einen Schritt beiseite gegangen war. Sie hob den Blick und sah, dass die Felswand nass war. Der Nebel strich um die Klippe und kondensierte, und das Kondenswasser tropfte, tropfte, tropfte.
Sie wusste nicht, dass vierzig Jahre zuvor ein Mann namens H. Bay Webster die Insel von der Bundesregierung gepachtet hatte, um dort Schafe zu züchten. Das hatte allerdings nicht funktioniert, und zwar wegen Wassermangel und Überweidung, und schließlich hatten die Tiere einander den Tau vom Fell lecken müssen, um nicht zu verdursten. Aber das war unwichtig. Wichtig war nur, dass Wasser von der Klippe tropfte. Sie öffnete den Mund, sie leckte die Felswand ab, als wäre es eine Eiswaffel, die sie bei der Frau hinter dem Stand auf dem Jahrmarkt gekauft hatte. Und als eine der kleinen grünen Krabben in ihre Reichweite kam, ein kleines, flaches Ding, nicht größer als fünf Zentimeter im Durchmesser, trat sie mit dem Fuß darauf und steckte sich die kalten, salzig schmeckenden Stücke in den Mund.
Es dauerte lange, bis sie genug Mut gefasst hatte, denn sie wusste jetzt, was sie zu tun hatte, auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte. Immer wieder betete sie, dass jemand zu ihrer Rettung käme, dass sich der Bug eines Schiffs durch den Nebel schöbe oder ihr von oben ein Seil zugeworfen würde – dass irgend etwas geschähe, was es ihr ersparte, noch einmal in dieses eiskalte Wasser zu gehen. Das Komische war, dass sie immer gern geschwommen war – in der Schule hatte sie an Schwimmwettkämpfen teilgenommen und so viel trainiert, dass ihr Haar im letzten Schuljahr praktisch gar nicht mehr trocken geworden war –, doch als sie jetzt von ihrem Sims kletterte und, die Kühlbox an die Brust gedrückt, ins Wasser watete, hasste sie das Schwimmen mehr als alles in der Welt. Sogleich fror sie wieder bis auf die Knochen und ruderte wie wild mit den Beinen, um etwas warm zu werden, und dann hatte sie die Brandung hinter sich gelassen und schwamm.
Der Alptraum begann aufs neue, doch diesmal war es anders, denn sie war gerettet, sie hatte sich gerettet, und sie blieb nah an der Küste, zitternd, ja, erschöpft und durstig, aber nicht mehr in panischer Angst. Hier gab es keine Haie, nicht in der Nähe der Insel, wo es viele Seelöwen gab. Ganze Armeen bellten auf den Felsen und verströmten einen schwefligen Gestank
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